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Hat viel erlebt. Das Landhaus an der Friedenauer Fregestraße 19 mit seinem typischen Vorgarten. Es ist ein architektonisches Relikt aus den Gründungsjahren des Schöneberger Ortsteiles. Denn Friedenau war ursprünglich als Gartenstadt geplant.

© Kitty Kleist-Heinrich

Buch über ungewöhnliches Haus in Friedenau: Ritter, Reichsmarschall und Revoluzzer - eine Villa der Geschichten

Ein altes Landhaus in Berlin-Friedenau. Ein Ort voller Geschichten und höchst gegensätzlicher Bewohner. Der junge Hermann Göring, die Kommune I, Hans Magnus Enzensberger, ein Ritter – alle lebten in der Fregestraße 19.

In Afrika ein Kolonialheld, in Friedenau ein Pantoffelheld – was für eine Schlappe für den Kaiserlichen Reichskommissar und Konsul Dr. Heinrich Göring. Kaum hatte er seine langjährigen Auslandsmissionen in Deutsch-Südwestafrika, Haiti und Ägypten beendet, war gerade mit seiner 21 Jahre jüngeren Gattin Franziska und vier Kindern, darunter dem späteren NS-Reichsmarschall Hermann Göring, nach Berlin zurückgekehrt, da musste er sich mit einem Nebenbuhler abfinden: Menage-à-trois in Friedenau.

Es war der Auftakt zu einer ganzen Reihe ungewöhnlicher Geschichten in der gründerzeitlichen Landhausvilla Fregestraße 19 – mit höchst unterschiedlichen Bewohnern in der jeweiligen Hauptrolle und einer Vielzahl prominenter Besucher, die hier ein und aus gingen.

Der junge Hermann Göring und Revoluzzer der Kommune I, Bohemien Ritter von Epenstein und der streitbare Literat und „Kursbuch“-Herausgeber Hans Magnus Enzensberger – sie alle hatten zwischen der späten Kaiserzeit und den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik die Adresse: Fregestraße 19.

Bis heute ist das Viertel am S-Bahnhof Friedenau eine gutbürgerliche Gegend. Der 65-jährige Christian H. Freitag, gleichfalls ein früherer Bewohner des Hauses, hat die Galerie der Besitzer und Mieter detektivisch recherchiert. Er lebte dort sechs Jahre zur Untermiete bei Enzensberger. Alles, was er herausfand, erzählt er nun spannend und höchst unterhaltsam im liebevoll gestalteten Buch der Edition Friedenauer Brücke: „Ritter, Reichsmarschall & Revoluzzer“.

Eine bessere Vorlage als die Fregestraße 19 lässt sich kaum denken für jene Losung, die dem Buch auf Seite 1 die Richtung weist: „Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben.“ H.M. Enzensberger bringt das gleich auf der nächsten Seite in einem Vorwort so auf den Punkt: „Vielleicht stellt die Mikrohistorie ... manchmal sogar die großen Erzählungen in den Schatten.“

Panorama von Friedenau um 1900. Ganz rechts ist der Giebel des Hauses Fregestraße 19 im Anschnitt zu sehen.
Panorama von Friedenau um 1900. Ganz rechts ist der Giebel des Hauses Fregestraße 19 im Anschnitt zu sehen.

© Repro: Edition Friedenauer Brücke/Tsp

Heute wirkt die Villa geradezu klein im Ensemble der mehrstöckigen, meist gründerzeitlichen Nachbarhäuser. Zur Straße ein Vorgärtchen, dahinter ein Obstgarten mit Apfel- und Birnbäumen. Architektonisch ist sie eine Reminiszenz an die Baugeschichte des seit 1875 als Landhaus-Siedlung entwickelten Ortes. Es war ein kurzes Idyll. Ab 1890 erobern Spekulanten Friedenau, es entstehen erste große Mietshäuser. Das charakteristische Landhaus gerät zum Auslaufmodell.

Die 1886 errichtete Fregestraße 19 gehört anfangs dem Immobilienentwickler Rudolf Roesner, der in Friedenau eine Parzelle nach der anderen bebauen lässt. 1896 zieht Dr. Heinrich Göring mitsamt Familie ein. Aus gesundheitlichen Gründen im Vorruhestand, muss er mit einer erschreckend geringen Pension auskommen. Da kommt der charismatische Berliner Lebemann und langjährige Freund der Familie, Hermann Ritter von Epenstein, gerade recht. Mit einem stattlichen geerbten Vermögen gesegnet, erwirbt er die Villa und überlässt sie Görings mietfrei, hat er doch schon einige Zeit zuvor eine Liaison mit Heinrichs junger Ehefrau Franziska begonnen.

Im Jahr 1898 in der Fregestraße 19 zu Hause: Die Kinder von Franziska Göring - Paula und Olga sowie Albert (links) und Hermann, der spätere Reichsmarschall im NS-Staat.
Im Jahr 1898 in der Fregestraße 19 zu Hause: Die Kinder von Franziska Göring - Paula und Olga sowie Albert (links) und Hermann, der spätere Reichsmarschall im NS-Staat.

© Edition Friedenauer Brücke

Zwei Jahre bleibt das Dreiergespann in Friedenau, dann erwirbt Epenstein eine Burg bei Nürnberg, zieht dorthin – und nimmt seine Franziska mitsamt der kompletten Familie mit. Damals wird gemunkelt, „Fannys“ fünftes, noch in Berlin geborenes Kind Albert ähnele verblüffend dem reichen Gönner. Später, zur NS-Zeit, wird Albert ein Gegenspieler seines mächtigen Bruders Hermann: Er verhilft Juden und Verfolgten zur Flucht.

Jahrzehnte und zwei Weltkriege vergehen, die Villa bröckelt, steht lange Zeit leer – bis ein neuer Bewohner kommt: der populäre Linksintellektuelle Hans Magnus Enzensberger. „HME“ steht seit 1965 am Tor. Enzensberger erwirbt die Villa und wohnt dort mit Frau Dagrun und Tochter Tanaquil.

Doch schon 1967 – die Ehe ist gerade geschieden und HME weilt länger in Italien – zieht die Kommune I ein, das Gegenmodell der Außerparlamentarischen Opposition (APO) zur bürgerlichen Familie. Ex-Frau Dagrun schließt sich der Kommunarden-WG an und öffnet die Pforte. Aber das geht Enzensberger zu weit, sie müssen die Villa bald räumen.

In den frühen 70ern wurde Hans Magnus Enzensberger in der Villa beim Telefonieren fotografiert, manchmal knackte es in der Leitung. 1978/79 verkaufte er das Haus an eine Berliner Familie.
In den frühen 70ern wurde Hans Magnus Enzensberger in der Villa beim Telefonieren fotografiert, manchmal knackte es in der Leitung. 1978/79 verkaufte er das Haus an eine Berliner Familie.

© Christian H. Freitag

Fortan wird die Fregestraße zur Denkfabrik der APO. Rudi Dutschke und andere führende West-Berliner Köpfe der 68er Studentenbewegung geben sich die Klinke in die Hand, diskutieren mit „HM“ ihre Strategien. Enzensberger moderiert, ist Mentor, ergreift aber nicht Partei. Mancher Gast zuckt erst mal zusammen angesichts der bürgerlichen Villa des geschätzten Ratgebers. Sogar die RAF-Terroristen Ulrike Meinhof und Andreas Baader wollen 1970 bei HME unterschlüpfen. Doch der erklärt ihnen, das sei keine gute Idee. Im Telefon hört Enzensberger um diese Zeit schon ein Knacken, das gewiss nicht vom knarzenden Korbsessel kommt.

„Das war es. War es das? Ja, das muss es gewesen sein“, reimt er 1978 in seinem letzten in Berlin verfassten Gedicht. Er will nach München. Vor dem Umzug stellt er seinem Mitbewohner Christian H. Freitag noch eine Referenz aus. „Er war ein ruhiger und angenehmer Mieter . . . und hat sich gut um Heizung und Garten gekümmert.“

Ausschnitt des Buchcovers
Ausschnitt des Buchcovers

© Repro: Tsp

Christian H. Freitag: Ritter, Reichsmarschall & Revoluzzer. Aus der Geschichte eines Berliner Landhauses. Edition Friedenauer Brücke. 88 Seiten, 50 Illustrationen, 24 Euro, www.friedenauer-bruecke.de

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