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Rose, oh reiner Widerspruch. Walter Boehlich parodiert Rainer Maria Rilke.

© Schöffling Verlag

Bundesrepublikanische Literaturgeschichte: Der zartfühlende Gnadenlose

Publizistischer Tausendsassa und linkes Urgestein: Walter Boehlich in seinen Briefen.

Er war Kritiker, Lektor, Herausgeber und Übersetzer, las sich durch gigantische Bücherberge und ging mit dem jeweiligen Hund spazieren, seinem einzigen und ständigen Begleiter. Walter Boehlich, 1921 in eine deutschnationale Familie in Breslau geboren, war ein Intellektueller, auch wenn er, der nicht einmal sein Studium abgeschlossen hatte, damit kokettierte, nie promoviert zu haben. Daneben betätigte er sich als passionierter Briefeschreiber, auch wenn er sich manchmal in vergnüglichen Wendungen für seine Saumseligkeit entschuldigte.

Nachdem Boehlichs Nachlass und seine Bibliothek aus Frankfurt, wo er von 1957 bis zu seinem Tod 2006 wohnte, ins Moses-Mendelsohn-Zentrum nach Potsdam gewandert und mehrere Publikationen über ihn erschienen sind, liegt nun auch eine von Christoph Kapp und Wolfgang Schopf besorgte Auswahl der 8700 zwischen 1944 und 2000 entstandenen Briefe vor.

„Ich habe meine Skepsis, meine Kenntnisse und mein Gewissen“ - ein Zitat aus einem 1964 an seinen Verlegerchef Siegfried Unseld gerichteten Schlüsselbrief – faltet auf, was Boehlich ausmachte. Mit seinem Scharfsinn, der philologischen Expertise und politischen Integrität gehörte er zu den Unbestechlichen, der den, wie er meinte, „uneingelösten Versprechen“ von 1848 treu blieb und deshalb nach links rückte.

[Walter Boehlich: „Ich habe meine Skepsis, meine Kenntnisse und mein Gewissen“. Briefe 1944-2000. Hg. von Christoph Kapp und Wolfgang Schopf. Schöffling, Frankfurt a. M. 2021. 540 Seiten, 50 €.]

Dagegen war seine seitens der Mutter jüdische Herkunft – sie überlebte Theresienstadt, Boehlich und sein Zwillingsbruder Wolf wurden 1940 als „Halbjuden“ aus der Wehrmacht entlassen – für ihn nie ein Identitätskern: „Niemand sucht sich seine persönliche geschichte aus, schon gar nicht seine eltern. eine jüdische erziehung habe ich nie gekannt, glaube und religiosität bedeutet mir (für mich) nicht das mindeste, ich bin ein atheist, was also sollte mich ‚in einem ‚vernünftigen sinne' zum juden machen?“, begründete er 1992 (seit den siebziger Jahren durchweg in Kleinschreibung) seine Haltung gegenüber dem in Jerusalem lehrenden Literaturwissenschaftler Jakob Hessing.

Er teilte aus, schämte sich im Zweifel aber auch

Woran Boehlich glaubte, waren Literatur und Sprache. Über Probleme der Übertragung konnte er sich seitenlang auslassen, wie in seiner frühen Briefkritik an den „Merkur“-Herausgeber Hans Paeschke, in der er sich über die Proust-Übersetzerin Eva Rechel-Mertens und Peter Suhrkamp auslässt. Ihnen müsse „klargemacht werden, dass sie sich wirklich anstrengen müssen, wenn sie Anerkennung fordern wollen ... ich will das so zartfühlend wie möglich machen“. Auf eine umgekehrte Kritik des nicht minder peniblen Komparatisten Peter Szondi räumt Boehlich ein, dass „ich öfter geschlafen habe, als der Sache und meinem Ehrgeiz dienlich sein könnte. Ich schäme mich.“

Die Briefe aus der Zeit vor 1957 bilden den Beginn seiner publizistischen Tätigkeit ab: für den „Merkur“, „Die Neue Zeitung“, „Die Tat“, „Die Welt“ und „Die Zeit“. Für sie schrieb er auch als DAAD-Lektor im dänischen Aarhus und in Madrid weiter. Neben Paeschke sind vor allem der Schweizer Publizist und Redakteur Max Rychner und der Bonner Romanist Ernst Robert Curtius, bei dem Boehlich vier Jahre Assistent war, seine bevorzugten Briefpartner. Die Bewunderung des Debütanten schlägt bald um in gesundes Selbstbewusstsein: „Sollte ein Redacteur nicht wirklich wissen, wohin er will?“, fragt er Rychner. Nur vor Curtius verharrt der junge Mann in Demut. Und schon damals brillierte er als Stilist.

Die unter Suhrkamp 1957 segensreich begonnene Arbeitsbeziehung, an der ab 1962 auch Hans-Magnus Enzensberger teilhatte und die Bibliothek Suhrkamp hervorbrachte, zeigte nach Unselds Übernahme des Verlags erste Risse. Zu unterschiedlich waren Programmvorstellungen, Hintergründe und Temperamente. Von einer „Verschlechterung des Klimas“ berichtete Boehlich schon 1963. Curtius’ Witwe gegenüber entwirft er ein wenig schmeichelhaftes Psychogramm des Egomanen Unseld, „unklug“, „ehrgeizig“ und „eitel“, machthungrig darauf bedacht, „in die Geschichte einzugehen“.

Nachruf auf die Literaturkritik

Noch offenherziger lässt er sich gegenüber seiner Mutter, dem „geliebten Biber“ aus. „Notfalls müssen wir alle drei kündigen“, prophezeit er 1964. Die Querelen um das „Kursbuch 15“ (1968), in dem Boehlich mit seinem berühmten „Autodafé“, das dem Band als Einschub beiliegt, den Tod der (Literatur-)Kritik ausruft, besiegeln den endgültigen Bruch. Alleine dieser Krimi, nachzulesen bis zu den erklärenden Briefen an Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson nach dem Abgang der Lektoren, macht diesen sorgsam edierten, und (außer im Privaten) überschießend kommentierten und reich bebilderten Band lohnend. Nur würde man bei alledem gerne auch manche der an Boehlich gerichteten Briefe lesen.

Frankfurt sei ihm „tief widerlich“, ließ Boehlich gelegentlich wissen, und ihm fehlte dort nicht nur die spanische Sonne. Immerhin war es der Ort, an dem er viele namhafte Autoren und Autorinnen traf, ihnen gewissenhaft am Zeug flickte, Ratschläge erteilte oder ihnen schrieb, dass sie „genau den Ton gefunden“ hätten, „den ich mag“, wie im Fall Wolfgang Koeppen. Boehlich betreute die Schriften Walter Benjamins, „der mich noch ums Leben bringen wird“, die Briefe Gershom Scholems, er übersetzte Hermann Bang und Tanja Blixen, Margarete Duras und am Ende sogar Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“.

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Frankfurt war aber auch der Ort der Revolte, die er sympathisierend begleitete, immer mit Blick auf die Paulskirche und deren Erbe. „Wie soll sich denn eine unterdrückte Mehrheit befreien, wenn nicht durch bewaffneten Kampf?“, schrieb er Ilse Curtius 1972. Boehlich polemisierte gegen die alte und neue Rechte, diskutierte mit Adorno und Marcuse über Marxismus, gründete mit dem Geld seines Zwillings den Verlag der Autoren mit und hielt sich weiter an Dichter, die „eine Lösung“ bereithielten. Existenzielle Ausweglosigkeit ließ er nicht gelten.

Ein Anliegen war ihm die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit „seiner“ Fächer Germanistik und Romanistik, lange hoffte er vergeblich. Die Liebe galt dem einen oder anderen Hund, einer davon in einem Geburtstagsgedicht Koeppens verewigt. In der Ehe, schrieb Boehlich 1967 an die Prager Kollegin Jitka Korbarová, wäre er unglücklich geworden, denn, so im letzten abgedruckten Brief an seinen Studienkollegen Peter Wapnewski, er hätte es nicht ertragen, wenn jemand für ihn sorgt.

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