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Kultur: Café Mozart in Kamakura

Man nennt es Tradition: Das Japan-Gastspiel des Deutschen Theaters mit „Emilia Galotti“ / Von Bernd Wilms

Der Japaner, erklärt uns der Leiter des Goethe-Instituts in Tokio, hört am liebsten schon Beethoven zum Frühstück, die Neunte natürlich, und was die Dichter betrifft, erklärt er rheinisch jovial, ist unser Goethe Spitze in jedem Haushalt, „Faust“ natürlich, und wir dürfen sicher sein, dass wir auch mit Lessing und seiner „Emilia“ ein Heimspiel haben. Sagt es bei Linsen und Würstchen. Er glaubt daran. Wir glauben ihm. Was die Japaner beim Eintopf denken, können wir nicht erkennen.

Wir wissen voneinander wenig. Ein Freund, der lange in Kyoto lebt, ist sicher, dass japanische Schüler, wenn man sie fragt, an wessen Seite ihre Landsleute im Zweiten Weltkrieg kämpften, selbstverständlich antworten: an der Seite der Amerikaner. Andererseits habe ihn einmal ein freundlicher älterer Mann im Waschsalon mit „Heil Hitler“ begrüßt. Das liege aber weit zurück und sei nicht ernst zu nehmen.

Baseball ist der Lieblingssport in Japan. Die Fußballweltmeisterschaft kommt nur in ein paar Adidas-Läden vor. Litbarski ist längst nicht mehr da. Die Baseballer gewinnen gerade in San Diego gegen Kuba einen Worldcup und kriegen dafür Geld und hohe Orden der Regierung. Dagegen befindet sich das Sumo-Ringen in der Krise. Die Einheimischen gewöhnen sich daran, dass dieser religiös geprägte, symbolträchtige Sport von Amerikanern dominiert wird – solchen aus Hawaii, was nicht so auffällt. Big Boys.

Die Japan-Verliebtheit derer, die Japan nicht kennen, rührt von „Lost in Translation“, einem Film, der in Tokio spielt und auf besondere Weise in der Fremde. Der Blick aus einem amerikanischen Hotel fällt auf bunte japanische Zeichen, und dazwischen ist eine Glasscheibe. Die Regisseurin Sofia Coppola nennt diese Hotelbar eine schwimmende Insel über der Stadt, hoch in der 53. Etage. Der da hockt und guckt, wunderbar melancholisch, ist ein Schauspieler aus Amerika, gekommen, um für Whisky Reklame zu machen. Für japanischen Whisky mit schottischem Geschmack vom großen Getränkehersteller Suntory. Ironie der Wirklichkeit: Suntory gibt es überall, nur nicht oben im Park Hyatt, wo der Suntory-Trinker sitzt. Was der Film behauptet, steht für uns Gäste nicht auf der Karte.

Tokio ist ein Moloch. Man erschrickt, dass einen das bloße Funktionieren so stark beeindruckt. Tokio ist auch eine Maschine, und wenn es nicht so preußisch klänge, müsste man die enorme Disziplin preisen, die überall den Alltag beherrscht. Immer fegt und putzt einer. Dienstleistungswahn. Schlips und Kragen in der U-Bahn, sozusagen ausnahmslos. Geduld auch zur heftigsten Rushhour, Buddhisten am Handy. Ich sehe, wie ein Mann in der S-Bahn umfällt, einfach so, vom Sitz auf den Boden, und keiner, scheint es, nimmt davon Notiz. Nur gleichgültige Gesichter, die ausdrücken: Er wird genau so diszipliniert sein wie wir, er wird sich selber helfen. Tatsächlich steht der Mann wieder auf. Es ist nichts gewesen. Ich erlebe, wie Menschen, die man bittet, extreme Hilfsbereitschaft zeigen. Sie bestehen darauf, den Gast zum Ziel zu bringen, und wenn es eine Viertelstunde dauert, bis der Souvenirladen gefunden ist.

„Hai“ heißt „ja“, und das sagen die Japaner oft, und es ist, als gäbe es kein Wort für „nein“. Das sagen sie nie. Sie deuten es an, teilen es körperlich mit, dezent, entschuldigend, und deshalb kann es lange dauern, bis man begreift, dass Schuhe in der Größe, die man braucht, nicht vorrätig sind.

In der S-Bahn nach Saitama steht neben einer Japanerin eine Tüte mit dem Aufdruck: „Die schönen Dinge des Lebens. Düsseldorf. Königsallee“. Die Dame sagt uns, wo wir aussteigen müssen. In Saitama spielen wir also „Emilia Galotti“. Saitama ist eine Vorstadt von Tokio, keineswegs totes Gelände, sondern zum Beispiel der Ort, den die Rolling Stones für ihren Auftritt ausgesucht haben. Eine sehr gute, sehr konzentrierte Aufführung und ein sehr konzentriertes Publikum. Lost in Translation? Wir sind nicht sicher, was die Zuschauer begreifen und was die Übersetzung am Portal bewirkt. Am zweiten Abend: Podiumsdiskussion und Publikumsgespräch. Es zeigt sich, wie genau und mit welch hohem emotionalen Interesse diejenigen, denen das deutsche Theater nicht sehr geläufig ist, die Inszenierung aufnehmen.

Es sei der Logos, schreibt die Theaterwissenschaftlerin von der Chuo University, der diese Arbeit auszeichne, im Gegensatz zu Gesang, Tanz, Spektakel im japanischen Theater. „Auch wenn die Aufführung ein Beispiel für glänzendes modernes Regietheater war, erntete das Deutsche Theater in Japan vor allem dafür Beifall, dass es die Differenz von europäischem und japanischem Theater aufbewahrt. Das nennt man Tradition. Der Erfolg des Gastspiels zeigte, dass die Tradition immer noch das beste Exportprodukt einer Kultur ist.“

Die Probleme der Tradition, ihre Widerhaken – davon spürt man viel, wenn man sich auf das Spektakel namens Kabuki einlässt. Das sind alte Geschichten, aber keine, die über Jahrhunderte in strenger Form sich forterzählen, sondern (auch) Werke neuer Traditionalisten, die sich der historischen Stoffe und Spielweisen bedienen, und der Verdacht, dass es dabei kaum anders als bei der Verfertigung eines „Sissi“-Musicals zugeht, drängt sich auf angesichts der großen Zahl von Touristen, die dem Geschehen auf der Riesenbreitwandbühne folgen.

Was „echt“ ist und was nicht, das beschäftigt einen auf Schritt und Tritt. Weil einem das Echte mitunter wenig echt erscheint und man so viel Freude am Unechten hat, zum Beispiel der glänzend scheußlichen Metallfassade einer Spielhalle. Die Japaner gelten als „verspielt“, morgens stehen sie vor den Automaten Schlange. Das „alte Japan“ der Schreine und Tempel besteht ja nicht aus Idyllen der Stille, nicht einmal des Tourismus, sondern es liegt eingekeilt zwischen Hochhäusern und Plattenbauten, und von der Spielhalle bis zum nächsten Heiligtum sind es zwei Fahrrad-Minuten.

Japan ist immer wie die Einflüsse von außen, erklärt der deutsche Galerist aus Kyoto, das ist seit chinesischen Zeiten so. Schwer zu erkennen, welche Schicht der Übermalung sich gerade zeigt. Das meiste sieht sehr amerikanisch aus. Aber kaum ein Mensch spricht Englisch.

Wir reisen nicht in eine Stadt, sagt Schauspielerin Nina Hoss, sondern ins Kino. Ich frage mich, welche Wirklichkeit hinter den Fassaden steckt. Vermutlich gar keine, sagt Schauspieler Sven Lehmann, der zwei Tage später als ich angereist ist. Das habe ich vor zwei Tagen auch gedacht. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher, beim Blick durch die große Glasscheibe: Schwebezustand Tokio.

In der Suntory Hall (!) gibt es Beethoven, „Egmont“. Chefdirigent Gerd Albrecht leitet das Yomiuri Symphony Orchestra, das einem mächtigen Zeitungs- und Medienkonzern gehört. Das Orchester besteht, bis auf einen englischen Konzertmeister, aus lauter japanischen Musikern, die in Salzburg, Wien und New York studiert haben. 2000 Plätze sind verkauft. „Egmont“ wird pathetisch von einem japanischen Sprecher dargeboten – der bringt, für deutsche Ohren, den Beethoven in eine imposante Schieflage.

Im Foyer hängt ein dürftiges Plakat, dürftig mit Tesafilm angeklebt: Deutschland in Japan. Marktfrauen und Leuchttürme sind darauf abgebildet und die Loreley. Dabei gibt es ein höchst attraktives „Deutschlandjahr“ mit Opernaufführungen aus Stuttgart und München, mit Ausstellungen und Lesungen, gut und teuer; unser Gastspiel gehört dazu.

In Kamakura ist das „Café Mozart“ zu entdecken. Unscheinbar, wie eine verirrte Skihütte inmitten japanischer Tempelpracht, in der Stadt am Meer bei Tokio. Es gibt Hamburger und Nudeln, und die CD spielt Mozarts „Figaro“. Man sieht förmlich, wie sehr der Wirt solche Musik liebt. Karl Böhm 1963. Nun kenne er diesen „Figaro“ schon ewig und habe doch eine Frage: Singen sie italienisch oder deutsch? Da Ponte zur Pasta, japanische Verbeugung.

Kyoto kurz vor der Kirschblüte. Der Stadtteil Gion, wo die Geishas wohnen und wo man sich in die schönsten Ryokans einmieten kann. Das sind Hotels, bevor es Hotels gab, die japanische Art zu übernachten, bodennah, auf Matten und sehr komfortabel, mit herrlich heißen Bädern. Man kann sich, ebenfalls in diesem Stadtteil, als Geisha herrichten und fotografieren lassen, und gegen einen Aufpreis darf man sich ein paar Stunden öffentlich verkleidet zeigen.

Das Theater in Yamaguchi heißt Big Wave und wirkt ein bisschen wie ein Ufo in Sibirien. Warum denn hier „Emilia Galotti“? Damit nicht die Hauptstadt alles kriegt. Nachtblick. Tagblick. Genau auf gleicher Höhe mit der Hyatt-Bar gewährt der Mori Tower eine atemberaubende Aussicht auf diese Hauptstadt. Im 53. Stock liegen auch die Räume, in denen die Ausstellung „Tokyo-Berlin/Berlin- Tokyo“ zu sehen ist. Ein Bild von Harué Koga aus dem Jahr 1930 zeigt Wasser und Schiffe und vier Fallschirme und eine selbstvergessene Tänzerin auf einem Hochhausdach. Das Bild heißt: „Make-up outside the Window“.

P.S. Im Mori Tower kann man Whisky von Suntory kaufen.

Der Autor ist Intendant des Deutschen Theaters Berlin.

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