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Graphic Novel „Sonntag“ von Olivier Schrauwen: Im Rausch der Gedanken
Eine unsympathische Hauptfigur, ein langweiliger Tag – und einer der besten Comics des Jahres: Der in Berlin lebende Belgier Olivier Schrauwen ist mit „Sonntag“ für drei Eisner Awards nominiert worden.
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Äußerlich ist er ein mittelalter, leicht neurotischer Grafiker, dessen Leben an einem Sonntag weitgehend ereignislos dahinfließt. Doch im Kopf von Thibault, der Hauptfigur von Olivier Schrauwens epischer Comicerzählung „Sonntag“, geht es turbulent zu.
In seiner großspurigen Fantasie ist er mal der Pilot eines Jumbo-Jets, mal der biblische Artenretter Noah, mal die Sonne und einmal auch Elon Musk. Seine Gedanken springen von existenziellen Themen zu Belanglosigkeiten. Philosophische Einsichten und Alltägliches wechseln einander ebenso ab wie Obsession und Langeweile, Einbildung und Realität.
Auf fast 500 Seiten zeichnet Schrauwen minutiös einen Tag im Leben seines Protagonisten nach, der sein Reihenhäuschen in einer namenlosen Kleinstadt im Lauf der Erzählung kein einziges Mal verlässt und kaum Nennenswertes erlebt. In Tausenden von Panels dokumentiert er dessen Handlungen und vor allem fast jeden seiner Gedanken.

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Diesen Bewusstseinsstrom kanalisiert der 1977 in Belgien geborene und in Berlin lebende Zeichner mit einem strengen visuellen Konzept. Seine naturalistischen, in blauen Linien ausgeführten und mit wechselnden Schmuckfarben kolorierten Zeichnungen wirken sachlich kühl, die Figuren sind weitestgehend auf ihre Umrisse reduziert, die Hintergründe oft nur angedeutet.
Dissonanzen zwischen Worten und Bildern
Mit diesem neuen Werk, an dem er sechs Jahre gearbeitet hat, ist Schrauwen ein beachtliches Kunststück gelungen: Während der Sonntag, den sein ziemlich unsympathischer und grobschlächtiger Protagonist erlebt, an Eintönigkeit kaum zu überbieten ist, ist das Buch „Sonntag“ außergewöhnlich witzig, klug und unterhaltsam. Das liegt vor allem daran, dass Schrauwen meisterhaft mit den formalen Möglichkeiten der Kunstform Comic spielt und ein reflektierter Erzähler ist.
Dafür wurde der Autor jetzt in gleich drei Kategorien für die wichtigste Auszeichnung der US-Comicbranche nominiert, die Eisner Awards. Schrauwens Werk findet sich hier in den Kategorien Beste Graphic Novel, Beste US-Ausgabe eines ausländischen Comics und Bester Autor/Zeichner. Die Preise werden Ende Juli auf der San Diego Comic-Con International in Kalifornien verliehen.

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Ein prägendes Element in „Sonntag“ ist die Verschränkung der Szenen aus Thibaults beschränktem Universum mit den Handlungen und Gedanken der Menschen um ihn herum. Diese in zahlreichen Szenen genutzte Kontrastierung erzeugt viele Dissonanzen und eine teilweise absurde Komik. Zum Beispiel, wenn das morgendliche Onanieren der Hauptfigur im Bad mit Szenen gegengeschnitten wird, in denen sein Nachbar zur gleichen Zeit in ein Frühstücksbrötchen beißt.
Originelle Text-Bild-Synergien gelingen Schrauwen auch immer wieder bei der Schilderung des Alltags seiner Hauptfigur, zum Beispiel wenn er diesen über das Wesen der Sprache sinnieren lässt – und er sich dabei Buchstabennudeln als Mahlzeit zubereitet.
Auch an anderen Stellen baut Schrauwen anregende semiotische Exkurse über die Bedeutung von Zeichen und menschlicher Kommunikation ein. Da seine Hauptfigur als Designer auf das Entwerfen von Schriftarten spezialisiert ist, spielen Buchstaben im Comic eine wichtige Rolle.
Weitere Dynamik entwickelt sich aus der im Lauf der Handlung wachsenden Kluft zwischen Thibaults schlichtem Tagesablauf und den aufregenden Erlebnissen von drei wichtigen Nebenfiguren, von denen zwei für das Ende dieses Tages eine Überraschungsparty für die Hauptfigur aus Anlass seines bevorstehenden Geburtstages planen.

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Während er daheim nicht viel mit sich anzufangen weiß und keinen Schritt vor die Tür macht, erleben seine sich auf einer Auslandsreise in Afrika befindende Partnerin, sein zu Ausschweifungen neigender Cousin und eine frühere Jugendliebe an diesem Tag aufregende Dinge, deren Darstellung Schrauwen mit Thibaults Sonntagstrott kontrastiert.
Dazu kommen Erinnerungen Thibaults an frühere Eskapaden vor allem mit seinem Cousin, die der Zeichner mit viel Slapstick-Humor vermittelt.
Sprachlos in der Badewanne
Viele Szenen lassen sich auch als kritischer Kommentar zu einem antiquierten, aber nach wie vor weitverbreiteten Konzept von Männlichkeit lesen. Zu dem gehört neben Thibaults geringer Bereitschaft zu Selbstkritik und seinem Mangel an Empathie auch eine Sprachlosigkeit, die ihn im Gegensatz zu seinen wortreichen inneren Monologen befällt, wenn er mit anderen Menschen und vor allem Frauen zu kommunizieren versucht.
Besonders sticht eine Szene in der Badewanne hervor, in der er über mehrere Seiten damit kämpft, in einer SMS-Kurznachricht an seine Freundin die richtigen Worte für eine eigentlich banale Nachricht zu finden. Selbstüberschätzung und Selbstmitleid liegen bei Thibault zudem eng beieinander.

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Geistreich ist auch der wiederholte Einsatz von Musik. Wenn Thibault zum in Wort und Bild nachgezeichneten Ohrwurm „Get Up (I Feel Like Being) a Sex Machine“ von James Brown seinen Tag beginnt und in der Küche halbnackt beim Versuch verunglückt, einen akrobatischen Tanzschritt von Brown nachzuahmen, ist das einer von vielen Momenten, in denen Fremdscham und Witz eine amüsante Verbindung eingehen.
Ein abendlicher Trip mit Tom Hanks
Als sehr unterhaltsam, speziell in visueller Hinsicht, erweist sich zudem das Abdriften des Protagonisten in den Rausch, erst mittels Alkohol und dann durch einen abendlichen Joint. Das führt dazu, dass seine Gedanken noch sprunghafter und assoziativer werden, was Schrauwen durch sich auflösende Seitenlayouts und kaleidoskopisch anmutende Panelaufteilungen auch formal anschaulich vermittelt.
Weitere Bedeutungsebenen fügt der Zeichner durch Zitate und Verweise auf andere Kulturprodukte hinzu. Zum Beispiel, indem er seine Figur gegen Ende des Tages den Film „The Da Vinci Code“ schauen lässt, wobei sich Filmszenen und Comic-Handlung so weit überlagern, dass der bekiffte Thibault und Tom Hanks fast zu einer Figur verschmelzen.
Das ist auch dadurch ein großer Spaß, dass der fahrige, schon in nüchternem Zustand zu obsessivem Verhalten neigende Thibault beim erfolglosen Versuch, die Handlung des Films zugedröhnt zu verstehen, in eine paranoide Parallelwelt abgleitet, die später nahtlos in einen Traum übergeht.

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Anspielung auf „Tim und Struppi“
In anderen Szenen zeigt sich der Einfluss der belgischen Comictradition, mit der der in Gent und Brüssel als Illustrator und Animator geschulte Schrauwen aufgewachsen ist. Zum Beispiel an einer prägnanten Stelle, an der Thibault sich in die Fantasie hineinsteigert, seine Freundin könnte von der Terrorgruppe Boko Haram entführt worden sein.
Das illustriert der Künstler mit einer im Stil von „Tim und Struppi“ gezeichneten Anspielung auf Hergé, den Wegbereiter der „Ligne Claire“, dessen Afrika-Bild für seine rassistischen Stereotype in den vergangenen Jahren viel kritisiert wurde.

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Ursprünglich war „Sonntag“ als vierteilige, auf Englisch veröffentlichte Heftreihe angelegt, die der Berliner Avantgarde-Comicverlag Coloroma im Risografie-Verfahren publiziert hat. Der 2024 in den USA bei Fantagraphics auf Englisch und jetzt beim Schweizer Verlag Edition Moderne auf Deutsch veröffentlichte Sammelband (Übersetzung Christoph Schuler, 472 Seiten, 45 Euro) behält die ursprüngliche Ästhetik mit den gedämpften Pastelltönen bei, was dem Comic eine handgemachte Anmutung verleiht.

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Die Figur des Thibault wird in „Sonntag“ als Cousin des Autors präsentiert. Die beiden wenden sich in einer prägnanten Szene auch mal direkt an die Leserschaft. Diese vermeintliche Authentizität darf man jedoch als einen weiteren Kunstgriff Schrauwens verstehen. In einem Interview mit dem „Comics Journal“ hat er angedeutet, dass Thibault in erster Linie eine fiktive Figur ist, teilweise aber auch autobiografische Bezüge aufweist.
Anklänge an Proust und Joyce
Mit den Untiefen der menschlichen, genauer gesagt der männlichen Psyche hat sich Olivier Schrauwen schon vor „Sonntag“ immer wieder beschäftigt, unter anderem in seinem 2008 bei Reprodukt veröffentlichten Comic-Debüt „Mein Junge“, in dem es um eine problematische Vater-Sohn-Beziehung ging.

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Und auch der Rückgriff auf vermeintliche Verwandte des Autors als Hauptfigur hat bei ihm Tradition. In seiner vor neun Jahren auf Deutsch erschienenen Graphic Novel „Arsène Schrauwen“ geht es unter anderem um angebliche Erlebnisse seines Großvaters in einer belgischen Kolonie.
Neben der Kolonialgeschichte wurden darin auch das Verhältnis der Geschlechter, männliche Selbstüberschätzung und die Wirrungen eines paranoiden Gehirns verhandelt.
Ebenfalls keine leichten Themen, aber auch in dem Fall von Schrauwen mit so viel Humor und grafischer Finesse verarbeitet, dass die Erzählung 2016 von der Tagesspiegel-Jury unter die zehn besten Comics des Jahres gewählt wurde.
Auch „Sonntag“ dürfte Ende dieses Jahres ganz zu Recht auf den deutschsprachigen Comic-Bestenlisten stehen. In der englischsprachigen Welt wurde das Buch bereits 2024 von den Kritikern gefeiert, die Parallelen zu Literaturklassikern wie Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und James Joyces „Ulysses“ sowie zu den introspektiven Meisterwerken des Chicagoer Zeichners Chris Ware zogen.
„New York Times“, „Washington Post“ und „The Guardian“ kürten es zu einer der besten Comic-Veröffentlichungen des Jahres.
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