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Klassiker: Eine Seite der Serie „Little Nemo“ von 1908.

© Illustration: Winsor McCay/Promo

Kommentar: Ihr da oben, wir da unten

Das Etikett „Graphic Novel“ beschert dem Comic derzeit so viel Zuspruch wie selten. Allerdings sagt der aktuelle Umgang mit dem Begriff mehr über kulturelle Befindlichkeiten in Deutschland aus als über das Medium. Ein Diskussionsbeitrag

Die Erkenntnis, dass es sich beim Comic nicht um Pseudoliteratur für Analphabeten handelt, verbreitet sich hierzulande mit Verspätung. Während in Ländern wie Frankreich, Italien, Japan oder den USA bereits seit Jahrzehnten der Schatz erkannt wurde, den diese Bildgeschichten darstellen, nahmen in Deutschland erst ab den Neunzigern langsam die Vorurteile gegen das Lesen von Comics auch für Erwachsene ab. Seit gut zehn Jahren etabliert sich auch hier der Begriff Graphic Novel als Bezeichnung für gewisse Arten von Comics. Die Frage, welche Arten das sind oder wie sie sich bestimmen lassen, entlarven allerdings ein bildungsbürgerliches Denken, das spätestens seit den Siebzigern überwunden schien.

Mit dem Flyer „Was sind Graphic Novels?“ und der dazugehörigen Homepage versucht seit einigen Jahren ein Zusammenschluss von Verlagen den Begriff einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Abgesehen davon, dass der Flyer tatsächlich für unbedarfte Leser hoch informativ ist, zeigt schon die Vorabdefinition, wie problematisch der Umgang mit Comics noch immer ist: „Graphic Novels sind Comics mit Themen, die sich nicht mehr nur an Kinder und Jugendliche, sondern an erwachsene Leser richten“. Mit einem einfachen Satz wird die Teleologie, welche der Comicgeschichte unterstellt wird, ebenso reproduziert, wie die Unterscheidung von hoher und niederer Kultur, beziehungsweise Literatur für Erwachsene und Literatur für Kinder.

Es ist falsch von einem Erwachsenwerden des Comics zu sprechen, da es sich tatsächlich nie ausschließlich um Jugendliteratur handelte. Tatsächlich wurden Comics vor mehr als 100 Jahren zur Verkaufssteigerung von Zeitungen entwickelt – Zeitungen, die von Erwachsenen gekauft wurden, nicht von Kindern. Und das zeigt sich auch in den Comics dieser Zeit. Zu glauben, dass „Little Nemo“ oder „Gasoline Alley“ unter dem Niveau erwachsener Leser waren oder sind, würde von einem tiefen Unverständnis zeugen – nicht nur in Bezug auf Comics.

Erwachsen? Eine Szene aus dem Graphic-Novel-Flyer.
Erwachsen? Eine Szene aus dem Graphic-Novel-Flyer.

© Promo

Dem zugrunde liegen tief in den Köpfen verankerte Kategorisierungen, die der Realität nicht gerecht werden. Da wäre die Unterscheidung von Themen für Kinder und Themen für Erwachsene. Eine solche Behauptung dürfte kaum jemand ernsthaft für Carrolls „Alice's Adventures in Wonderland“ öffentlich aufstellen. Dass aber auch die „Peanuts“ eine zutiefst bedrückende Ebene besitzen, die zu erkennen eine gewisse Reife verlangt, fällt diesen beschränkten Kategorien leider häufig zum Opfer.

Überhaupt nimmt es wunder, dass noch immer das Thema eines Comics als Beweis seines vermeintlichen Anspruchs missbraucht wird. Etwas ähnliches würde man sich bei keiner anderen Kunstform mehr in dieser Form wagen. Wenn zum Beispiel darauf hingewiesen wird, dass sich Graphic Novels „sogar“ mit dem Holocaust beschäftigen und nicht „lediglich“ mit Science Fiction oder Fantasy, so wäre nach gleicher Logik Don Edmonds Machwerk „Ilsa, She-Wolf of the SS“ automatisch hochwertiger als Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“. Die Qualität von Art Spiegelmans „Maus“ liegt nicht darin, dass dieser die Shoah behandelt, sondern wie er es tut.

Während im restlichen Kulturbetrieb die Postmoderne die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur zumindest reduziert hat, lebt in der deutschen Auslegung des Begriffs „Graphic Novel“ der Mythos der „anspruchsvollen“, „wahren“ Kunst munter fort. Dabei ist die Idee, dass es grundsätzlich einen qualitativen Unterschied zwischen Graphic Novels und anderen Formen des Comics gäbe, bestenfalls absurd. In der Comicforschung wird noch immer leidenschaftlich darüber gestritten, was der Begriff überhaupt genau bedeuten soll oder ob er jenseits von Marketingüberlegungen überhaupt einen Zweck erfüllt. Dass das aber kein schlechtes Zeichen ist, zeigt sich daran, dass sich die Literaturwissenschaft auch an der Definition des „älteren Bruders“ der Graphic Novel, dem Roman, bis heute abarbeitet.

Kinderkram? Ein Peanuts-Strip.
Kinderkram? Ein Peanuts-Strip.

© Promo

Gerade hierzulande besitzt diese Diskussion zudem etwas absonderliches, wenn man bedenkt, dass nicht zuletzt das Problem der Bedeutung „comic“ als komisch in Amerika das verständliche Bedürfnis nach einer Bezeichnung für Comics, die nicht komisch sind, erst produzierte. Eine semantische Zwickmühle, die im Deutschen, trotz einer phonetischen Ähnlichkeit, in dieser Dimension nicht existiert. Hier ist es die negative Konnotation, die nach einer Alternative für „Comics“ suchen lässt. Das Ergebnis musste für viele offensichtlich ein Begriff sein, der diesem Problem diametral entgegen steht und bereits die Rechtfertigung impliziert, dass man diesen Comic lesen „darf“, da er „erwachsen“ und „anspruchsvoll“ sei, oder wie Michael Klamp in der Ostsee-Zeitung schreibt: ein „Comic für Besserleser“. Enthalten ist also auch die vermeintliche Aufwertung des Konsumenten: „Ich lese keine Comics. Das sind Graphic Novels“. Eine Haltung die für die Legitimierung des Comics letztendlich kontraproduktiv ist.

Es ist dieser apologetische Habitus, den das Feuilleton erst langsam abbaut. Zwar sind Besprechungen von Comics ins Zeitungen und Rundfunk bei weitem keine Seltenheit mehr. Trotzdem fühlt sich noch immer eine nicht zu unterschätzende Masse an Journalisten genötigt, einleitend darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei Graphic Novels nicht „nur“ um bunte Bildchen handelt – ein Ausdruck, der Kunstsammlungen weltweit sträflich herabwürdigt. Es ist dem Comic und dem deutschen Kulturbetrieb zu wünschen, dass man sich bald auch hier von Vorurteilen und Kategorien verabschiedet, die im Endeffekt mehr schaden als nutzen.

Unser Gastautor Lars Banhold hat u.a. das Buch „Batman – Konstruktion eines Helden“ verfasst

Lars Banhold

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