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© Lars von Törne

Atelierbesuch: Unsere kleine Stadt

Die Comic-Veteranen Régis Loisel und Jean-Louis Tripp haben mit dem Epos „Das Nest“ ein grandioses, nostalgisches Alterswerk geschaffen. Ein Ortsbesuch in Kanada.

Ein eisiger Wind wirbelt den Schnee durch die Straßen. Die wenigen Menschen, die an diesem Wintertag in Montréal zu Fuß unterwegs sind, versinken bis zu den Knien. Man erreicht die Tür eines unscheinbaren Häuschens, schüttelt Schnee und Eis von der Kleidung, steigt in eine mit Bildern und Skulpturen gefüllte Atelierwohnung in der ersten Etage hinauf und wird von zwei graubärtigen Mittfünfzigern in Holzfällerhemden und Lederwesten empfangen.

Ein Besuch bei Régis Loisel und Jean-Louis Tripp hat etwas von einer Zeitreise. Wer die beiden Zeichner und Autoren in ihrer Wahlheimat in der frankokanadischen Provinz Québec besucht, fühlt sich, als sei er in jener Welt gelandet, die das aus Frankreich stammende Duo in seinem Comic-Epos „Das Nest“ erschaffen hat. Die nostalgische Serie, deren vierter Band jetzt auf Deutsch veröffentlicht wurde, spielt in einem Dorf im Québec der 1920er Jahre. Die Menschen leben ein einfaches, von engen Traditionen, der rauen Natur und den unbarmherzigen Jahreszeiten bestimmtes Leben. Bis eines Tages ein Fremder in Notre-Dame- des-Lacs auftaucht, sich bei einer jungen Witwe einquartiert und die althergebrachte Ordnung durcheinanderbringt.

Ein Comic im Geiste Frank Capras

Ein Bruch mit alten Vertrautheiten war auch der Umzug der zwei Franzosen nach Québec, wie sie beim Tee erzählen. Die beiden, die seit langem gut befreundet sind, hatten sich in den vergangenen Jahrzehnten als feste Größen der europäischen Comiclandschaft etabliert, vor allem Loisel ist mit Fantasy-Serien wie „Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“ und „Peter Pan“ weit über Frankreich hinaus erfolgreich.

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Komplexe Beziehung. Marie und Serge sind die die Hauptfiguren in "Das Nest", hier ein Ausschnitt aus dem Cover des aktuellen vierten Bandes.

© Illustration: Loisel & Tripp/Carlsen

Vor sieben Jahren hatten sie genug vom Alltag in den vertrauten Bahnen und entdeckten die lebensfrohe Metropole Montréal für sich. „Wir suchten ein gemeinsames Projekt, das mit unserer neuen Heimat zu tun hat“, erzählt Loisel. Beide verehren den Regisseur Frank Capra, der in Filmen wie „Ist das Leben nicht schön?“ den kleinstädtischen Alltag einfühlsam und mit einer Prise Sozialkritik schilderte. „In diesem Geist entwickelten wir unsere Geschichte“, sagt Tripp.

Die beiden wechseln sich im Gespräch ab, ergänzen einander, wenngleich man merkt, dass Loisel die wichtigsten Akzente setzt. Tripp ergänzt, verfeinert, schmückt aus – im Interview ebenso wie bei der Arbeit an „Das Nest“. Québec mit seinen schier endlosen Wäldern und oft bis heute isolierten Gemeinschaften erschien ihnen der perfekte Rahmen, um eine Geschichte zu entwerfen, die mit viel Liebe zu den Figuren und psychologischem Einfühlungsvermögen dabei ist, sich zu einer großen grafischen Erzählung zu entfalten.

„Vor allem die Schimpfworte sind völlig anders“

Im Mittelpunkt steht die komplexe Beziehung der Witwe Marie zu dem geheimnisvollen Neuankömmling Serge, einen mindestens ebenso großen Raum nehmen zahlreiche Nebenhandlungen und die Beschreibung des Alltags der Dorfbewohner ein. Es wird getanzt und gefeiert, gejagt und gegessen, und hin und wieder gibt es archaisch anmutende Konflikte und überraschende Gefühlsausbrüche. Auf sechs Bände war das Epos einst angelegt. „Inzwischen haben die Charaktere ein Eigenleben entwickelt und wir brauchen mehr Zeit und Platz, ihnen zu folgen“, sagt Tripp. So könnten es am Schluss sieben oder acht Bände werden, bis alles erzählt ist.

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Zwischen Tradition und Aufbruch. Hauptfigur Marie auf dem Cover des ersten Bandes.

© Illustration: Loisel & Tripp/Carlsen

Es war für die beiden Hinzugezogenen eine Gratwanderung, die Geschichte gerade hier anzusiedeln, im von langen Traditionen geprägten Québec. „Die Beziehung der Franzosen zu den Québecern ist eng und schwierig“, sagt Tripp. „Es ist eine Mischung aus Liebe und Hass, wie Vater und Sohn.“ Einerseits gibt es zwischen der einstigen Kolonie und dem Mutterland bis heute enge emotionale Verbindungen, andererseits hat sich jede Region im Laufe der Jahrhunderte anders und nicht immer zur Freude des anderen entwickelt. Den Unterschied merken die beiden auch an der Sprache und der Alltagskultur, die sie für ihre Geschichte beschreiben. „Vor allem die Schimpfworte sind völlig anders“, sagt Tripp. Dann spulen beide lachend eine Reihe von typischen Québecer Flüchen ab, die allesamt von religiösen Begriffen abstammen – Überbleibsel der einst alles dominierenden katholischen Kirche in diesem Teil der Neuen Welt. „Bei uns in Frankreich benutzt man viel öfter Schimpfworte mit sexuellem Bezug, die würden hier niemandem über die Lippen gehen“, lacht Tripp.

Üppige, nackte Frauen? Diesmal nicht

Um sicherzugehen, haben sie für ihr Buch lange recherchiert, Sprachwissenschaftler und Völkerkundler aus der Region hinzugezogen. Bei der Beschreibung des Dorflebens konnten die beiden allerdings auch aus der eigenen Jugenderinnerung schöpfen: „Wir sind beide auf dem Land groß geworden“, sagt Loisel. Und so sehr unterscheide sich der französische dann doch nicht vom Québecer Dorfalltag. „Mit diesem Buch haben wir Teile unserer Kindheit wieder belebt.“

Nur eines dürften Loisels Fans in dem epischen Alterswerk vermissen: üppige und wenig bekleidete Frauenkörper, sonst sein Markenzeichen. „Wir erzählen zwar auch eine erotische Geschichte“, erklärt Loisel. „Aber es geht um Gefühle, nicht um Körperliches.“ Dazu kommt ein praktischer Grund: „Wir wollten so viele Leser wie möglich erreichen.“ So werde „Das Nest“ im Geschichtsunterricht an Québecer Schulen eingesetzt. „Da musste ich mich mal ein bisschen zurücknehmen.“

Loisel & Tripp: „Das Nest“, bislang 4 Bände à 70–80 Seiten, je 18 Euro, Carlsen. Leseprobe unter
diesem Link. Zu Loisels Website mit mehr Informationen zu dem Projekt und einem Einblick in den auf Französisch kürzlich erschienenen fünften Band geht es hier.

(In gekürzter Fassung erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 10.2. 2010)

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