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© „Rebis“ / Cross Cult

Zarter Strich, harte Wirklichkeit : Fünf aktuelle Comic-Tipps aus Italien

Am Mittwoch startet die Frankfurter Buchmesse. Wir empfehlen fünf aktuelle Comics aus dem diesjährigen Ehrengastland Italien.

Stand:

Italien, das in diesem Jahr Ehrengastland der Frankfurter Buchmesse ist, hat eine lange Comic-Tradition. Wir stellen fünf aktuelle Titel für unterschiedliche Altersgruppen vor, die eine Entdeckung wert sind.


1 Zerocalcare: „Die Krake im Nacken“

Der Italiener Michele Rech alias Zerocalcare ist durch seine autobiografisch-politischen Animationsserien „An der perforierten Linie abreißen“ und „Questo mondo non mi renderà cattivo“ auf Netflix weit über die Comicszene hinaus bekannt.

In seinem Heimatland war der 1983 geborene Comicautor schon vorher ein Star, dort haben seine autobiografischen Arbeiten sowie seine politischen Reiseberichte aus den nahöstlichen Krisenregionen seit langem eine große Fangemeinde.

Eine Seite aus „Die Krake im Nacken“.

© avant

Jetzt kann man ein weiteres Werk auf Deutsch entdecken, in dem er mit schwarzem Humor und meisterhaften Zeichnungen ein dunkles Kapitel seiner Jugend aufarbeitet: Die im Original bereits 2012 veröffentlichte Erzählung „Die Krake im Nacken“ (Übersetzung Myriam Alfano, avant, 192 S., 25 €).

In drei Episoden geht es unter anderem um die fatalen Folgen eines Mobbing-Vorfalls an seiner Schule und eine unheimliche Entdeckung, die er und seine Freunde in einem Wald nahe ihrer Schule machen.

Zerocalcare: „Die Krake im Nacken“, Übersetzung Myriam Alfano, avant, 192 S., 25 €

© avant

Im Zentrum steht dabei das eigene, ambivalente Verhalten des Erzählers, der mit einer Notlüge eine verhängnisvolle Entwicklung in Gang setzt, deren Folgen ihn und andere Beteiligte noch Jahre lang verfolgen werden. Dem Autor gelingt das Kunststück, davon auf eine Weise zu erzählen, die witzig und ernst zugleich ist.

Zeichnerisch verknüpft Zerocalcare einen locker wirkenden Funny-Stil mit Disney- und Märchen-Anleihen sowie Elementen des Independent-Comics, Horror-Passagen und Popkultur-Zitaten zu einer ganz eigenen visuellen Sprache. (lvt)


2 Alessandro Tota: „Die große Illusion“

1938. In Deutschland regieren die Nazis, an den amerikanischen Kiosken Flash Gordon und Dick Tracy. In Kansas sitzt die junge Diana Miller auf einer verarmten Farm und träumt. Träumt von Detektiven, Helden, verruchten Frauen und dem Leben als Autorin von Groschenheften: „Sein Geld mit den eigenen Träumen verdienen. Dieser geheimnisvollen Bruderschaft möchtest du auch angehören.“

Also macht sie sich auf nach New York und landet erstmal im Armenasyl und dann in den Armen einer kommunistischen Zeitungsredaktion. Es sind aufregende Zeiten.

Eine Seite aus „Die große Illusion“.

© Reprodukt

Im ersten von geplanten zwei Bänden seiner Geschichte „Die große Illusion“ (aus dem Italienischen von Myriam Alfano, Lettering von Hanna Hannig / Handlettering von Sascha Hommer, 248 Seiten, 29 Euro) schildert der in Bologna lebende Alessandro Tota folglich nicht nur eine Künstlerbiografie, sondern auch ein Stück Geschichte.

Er erzählt von blutigen Arbeitskämpfen und denen ums tägliche Brot, von Abhängigkeiten, Emanzipation, (Selbst)ausbeutung. Darüber hinaus erlaubt er einen Blick in den arbeitsteiligen Produktionsprozess von Comics zu Beginn des Superheldenzeitalters, das bis heute andauert. Wie die Diskussion, ob das alles Kunst ist oder Kinderkram …  

Alessandro Tota: „Die große Illusion“, aus dem Italienischen von Myriam Alfano, Lettering von Hanna Hannig / Handlettering von Sascha Hommer, 248 S., 29 €

© reprodukt

Gezeichnet hat Tota das mit einem schnellen Strich, der an eine Mischung aus Undergroundcomics der 60er und Ligne claire erinnert. Viele Flächen sind konturlos orange, blau oder braun koloriert. Vieles ist überzeichnet, gerade in den Szenen, in denen die von Miller erschaffenen Figuren auf einer Metaebene in die Erzählung eingreifen.

Vielleicht kein Meisterwerk, aber eines, dass „Die Magie der Schundliteratur“ liebevoll greifbar macht.  (mho)


3 Carlotta Dicataldo / Irene Marchesini: „Rebis – Ein Kind der Natur“

Seine Haut und seine Haare sind so weiß wie die Larven, die er in seiner Freizeit im Wald füttert. Der kleine Martino ist ein ungewöhnliches Kind, in der mittelalterlichen Kleinstadt, in der der Junge zur Zeit der Hexenverbrennungen mit seiner Familie lebt, wird er von Geburt an als Außenseiter angesehen. Man macht ihn für schlechte Ernten und andere Missgeschicke verantwortlich, der Junge wird zum Verstoßenen.

Eine Seite aus „Rebis – Ein Kind der Natur“.

© Cross Cult

Im Gewand eines klassischen Märchens erzählen Carlotta Dicataldo und Irene Marchesini in ihrem Buch „Rebis – Ein Kinder der Natur“ (Übersetzung Silvano Loureiro Pinto, Cross Cult, 192 S., 20 €) eine Geschichte vom Anderssein, dem Kampf gegen Vorurteile und schließlich der Selbstfindung in Gesellschaft anderer Menschen, die jenseits der Traditionen und etablierten gesellschaftlichen Rollen leben.

In filigranen Zeichnungen, die europäische Comiceinflüsse dezent mit Elementen amerikanischer und japanischer Zeichentrickfilme anreichern, schafft die Zeichnerin Carlotta Dicataldo eine fantastisch anmutende Welt voller Magie und Menschlichkeit, an der vor allem die ausschweifenden Naturdarstellungen beeindrucken. Zudem ist sie eine meisterhafte Porträtzeichnerin, die Gesichter ihrer Figuren vermitteln eine große Bandbreite an Emotionen.

Carlotta Dicataldo / Irene Marchesini: „Rebis – Ein Kind der Natur“, Übersetzung Silvano Loureiro Pinto, Cross Cult, 192 S., 20 €

© Cross Cult

Das unterhaltsam konstruierte Szenario von Irene Marchesini liest sich einerseits wie ein klassischer Bildungsroman, der die Entwicklung der jugendlichen Hauptfigur gegen alle Widerstände nachzeichnet. Da es dabei aber auch um das Ringen mit tradierten Geschlechterrollen und fluide Identitäten geht, ist dieses Buch zugleich ein sehr zeitgemäßer Beitrag zur aktuellen Genderdebatte und ein Plädoyer für Offenheit und Toleranz. (lvt)


4 Gipi: „Geschichten aus der Provinz“

Sie schlagen sich als Kleinkriminelle durch oder als Söldner und leben in einer Welt der Verwahrlosung und der Gewalt. Die Figuren in den Comics des Italieners Gian Alfonso Pacinotti alias Gipi sind oft junge Männer, die ihren Platz in einer erbarmungslosen Umgebung suchen. So zuletzt in seinem vielgelobten Buch „Die Welt der Söhne“, das vom Überlebenskampf zweier Brüder in einer postapokalyptischen Sumpflandschaft handelt.

Eine Seite aus „Geschichten aus der Provinz“.

© avant

Auch in den jetzt im Sammelband „Geschichten aus der Provinz“ (Übersetzung Myriam Alfano und Giovanni Peduto, avant, 208 S., 35 €) neu aufgelegten vier Comics aus den frühen 2000er Jahren erzählt der 1963 geborene Comicautor von Existenzen am Rande der Gesellschaft. Sein Strich ist zart und hart zugleich, vieles wird zeichnerisch nur angedeutet, gelegentlich gibt eine dezente Aquarellkolorierung den Bildern zusätzliche Tiefe, die Dialoge sind lebensnah und pointiert.

Gipis große Meisterschaft besteht darin, wie er die Dynamik zwischen seinen Figuren in langsam eskalierenden Situationen vermittelt, insbesondere in der längsten Arbeit in diesem Band, „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“. Sie handelt von drei Freunden, die in einer namenlosen europäischen Kriegsregion leben, die Elemente des Balkans mit italienischen Bezügen verbindet.

Gipi: „Geschichten aus der Provinz“, Übersetzung Myriam Alfano und Giovanni Peduto, avant, 208 S., 35 €

© avant

Die Beziehung des Trios wird im Lauf der Erzählung auf eine fundamentale Probe gestellt. Mit wenigen, oft skizzenhaft wirkenden Linien bringt Gipi verhärmte Gesichter zu Papier, in denen sich Angst und Hoffnung mischen. Es geht um Machtkämpfe und Männlichkeitsrituale, fragile Freundschaften und den Versuch, im Angesicht des Krieges seine Menschlichkeit zu bewahren. (lvt)


5 Alessandro Barbucci / Giovanni die Gregorio: „Der Club der drei Schwestern“

Sie sind nicht nur Geschwister, sondern auch beste Freundinnen, erleben jede Menge Abenteuer zusammen und entdecken dabei jedes Mal etwas Neues über sich oder ihre Familie. Die jungen Hauptfiguren der Reihe „Der Club der drei Schwestern“ (Übersetzung Hanna Reininger und Jano Rohleder, Splitter, bislang 5 Bände, je 72 S., je 14,95/15,95 €) dürften vor allem jüngeren Leserinnen und Lesern viel Identifikationspotenzial bieten.

Eine Seite aus dem aktuellen fünften Band der Reihe „Der Club der drei Schwestern“.

© Splitter

Das Szenario von Giovanni die Gregorio verbindet Alltagsthemen wie Freundschaft, nicht immer einfache Geschwisterbeziehungen, persönliche Dramen, Familiengeheimnisse und den Übergang von der Kindheit zum Teenager-Alter mit dezent eingesetzten fantastischen Elementen.  

Die Zeichnungen dazu kommen von Alessandro Barbucci, der seit gut 20 Jahren ein zentraler Akteur der italienischen Comicszene ist. Der einstige Disney-Zeichner hat die vor allem bei jüngeren Leserinnen populäre Fantasy-Reihe „W.i.t.c.h.“ und das gleichnamige Magazin mit geschaffen, ebenso die auch als Zeichentrickserie erfolgreiche Reihe „Monster Allergy“.

Alessandro Barbucci / Giovanni die Gregorio: „Der Club der drei Schwestern“, Übersetzung Hanna Reininger und Jano Rohleder, Splitter, bislang 5 Bände, je 72 S., je 14,95/15,95 €

© Splitter

Ältere Leser kennen den 50-Jährigen womöglich als Zeichner der Science-Fiction- und Fantasy-Reihen „Sky Doll“ und „Ekhö“. In „Der Club der drei Schwestern“ verbindet Barbucci Elemente eines cartoonigen Disney-Stils mit einem frankobelgischen Strich sowie Anleihen bei Manga- und Animevorbildern aus Japan zu einer sehr eigenen, meisterhaften Mischung. (lvt)

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