
© Holger Kettner
Daniel Barenboim: Sein Gespür für Schumann
Ein Tondokument aus glücklicheren Tagen: Daniel Barenboim und die Berliner Staatskapelle interpretieren alle Schumann-Sinfonien
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2022 war ein annus horribilis für Daniel Barenboim, ein wahrhaft schreckliches Jahr. Er kann zwar das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigieren, nachdem ihn ein Rückenleiden gezwungen hatte, diverse Auftritte abzusagen. Doch schon Anfang Februar 2022 fällt er erneut aus, kurzfristig wird ein Eingriff an der Wirbelsäule nötig. Im Frühjahr ist er zurück auf dem Dirigentenpult, doch während der österlichen Festtage der Staatsoper muss er wegen Kreislaufproblemen ein Konzert in der Pause abbrechen. Anschließend wird in der Charité eine entzündliche Gefäßerkrankung diagnostiziert.
Sein Comeback kann Barenboim beim „Staatsopern für alle“-Konzertevent im Juni feiert, er absolviert die Sommertournee mit seinem West-Eastern Divan Orchestra, bei einem Auftritt mit den Wiener Philharmonikern Ende August in Salzburg ist er so schwach, dass er kaum den Taktstock führen kann. Seitdem muss er auf Anordnung der Ärzte auf öffentliche Auftritte verzichten, sogar das Konzert zur Feier seines 80. Geburtstags am 15. November wurde abgesagt. Dass er nun tatsächlich zu Silvester und Neujahr Unter den Linden Ludwig van Beethovens neunte Sinfonie dirigieren will, erscheint da fast wie ein Wunder.
Man spürt die Spannung des Live-Konzerts
Ein Doppel-Album mit sämtlichen Schumann-Sinfonien, das die Deutsche Grammophon jetzt herausgebracht hat, erinnert an bessere Zeiten: Im September und Oktober 2021 sind die Livemitschnitte in der Staatsoper entstanden, vital, ja geradezu kraftstrotzend wirkt Barenboims Interpretation, die Staatskapelle folgt ihm mit leidenschaftlicher Hingabe.
Künstler, die sich sehr gut kennen, machen Musik, die ihnen innig vertraut ist. Mit souveräner Selbstverständlichkeit entfaltet sich Robert Schumanns Romantik, man spürt die Spannung des Livekonzerts. „Vorwärts immer!“ lautet das Motto, hier waltet vulkanische Energie, als stünde ein feuriger Jüngling auf dem Dirigentenpult, auch in den langsamen Sätzen dominiert der stark schlagende Puls.

© Holger Kettner
Daniel Barenboim geht es hier um die große Linie, nicht um polierte Details. Manche Passage wirkt dadurch sehr al fresco gestaltet, ungestüm, mit breitem Pinsel, durchaus auch etwas zu routiniert in ihrer Effektsicherheit. Und dann zieht der Altmeister doch noch einen Trumpf aus dem Ärmel, auf den letzten Drücker, im Übergang des 3. Satzes zum Finale der vierten Sinfonie.
Mut zur extremen Interpretation
Handfest hebt das Scherzo ab, Robert Schumann schreibt „lebhaft“ in die Partitur, Barenboim lässt die Staatskapelle mit schwerem Schritt vorwärtsstreben. Das Trio setzt einen angemessenen Kontrast, lieblich und tändelnd, wie Melodielinie gerät in sanft wiegende Bewegungen wie eine venezianische Gondel im seichten Wasser der Lagune. Dann kommt das Scherzo mit Macht zurück, eine Wiederholung des Trios folgt.
Hier aber geht der Dirigent bewusst deutlich über die Vortragsbezeichnungen hinaus: „diminuendo poco a poco“ steht im Notentext, also Stück für Stück leiser werdend, danach „popo ritenuto“, ein wenig zurückgehalten. Doch Barenboim bremst so stark, dass die Töne einzeln in der Luft hängen bleiben, dass die Musik fast erstirbt.
Eine extremistische Entscheidung, die sich aber als schnell als raffiniert kalkuliert erweist: Denn so wird der langsame Beginn des Finales aus der angespannten Stille geboren, erscheint in geradezu mystischem Schein, faszinierend und viel versprechend. Und in der Tat kann sich das lebensbejahende Hauptthema durch diesen Kunstgriff als veritable Apotheose entfalten: ein umwerfender Durch-Nacht-zum-Licht-Effekt, eine Offenbarung.
Für den Interpreten Daniel Barenboim gilt also weiterhin, was Robert Schumann 1831 über den jungen Frédéric Chopin schrieb: „Hut ab, meine Herren, ein Genie!“
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