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Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, 81

© imago images/Agencia EFE

"Das Ereignis" von Annie Ernaux: Fluch der Einsamkeit

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux erzählt in ihrem Buch „Das Ereignis“ von einer Abtreibung in den sechziger Jahren.

Es ist eine Odyssee von Arztpraxis zu Arztpraxis. Betroffene, strenge Gesichter der Ärzte, bisweilen dumme Sprüche. Keiner will der jungen Studentin in Rouen helfen, Abtreibungen sind in Frankreich Anfang der sechziger Jahre illegal. Schließlich bekommt Annie Ernaux die Adresse einer „Engelmacherin“: Madame P.-R., eine ältere Krankenschwester im 17. Arrondissement von Paris.

Ihre Methode: Sie führt eine Sonde in den Gebärmutterhals der Frau ein, wodurch nach kurzer Zeit eine Fehlgeburt auslöst wird. Für die 23-Jährige, die ungewollt schwanger geworden ist, die letzte Chance.

Annie Ernaux, 1940 als Arbeiterkind in der Normandie geboren, ist eine Meisterin der Selbsterforschung. Sie hat mehrere autofiktionale Bücher geschrieben, ihre Familie schonungslos seziert. Dabei hat sie immer wieder die „Klassenfrage“ gestellt, die eigene Herkunft thematisiert, so wie Édouard Louis oder der Soziologe Didier Eribon. Auch bei uns ist die Französin mittlerweile populär, in den letzten Jahren sind ihre Bücher nach und nach auf Deutsch herausgekommen.

Das neue Buch, „Das Ereignis“, (aus dem Französischen von Sonja Finck, Suhrkamp Verlag, 104 Seiten, 18 €.) bereits 2000 in Frankreich erschienen, ist insofern besonders, als hier nicht die Geschichte ihrer Mutter oder des Vaters im Vordergrund steht, sondern sie selbst – mit einem für sie traumatischen Ereignis, das bis in die Gegenwart Spuren hinterlassen hat. Besonders ist auch, dass Ernaux ihre Schwangerschaft in Zusammenhang mit ihrer Herkunft stellt.

Chronistin ihres Lebens

Eine junge Frau aus der Provinz, die als erste in der Familie studiert hat. Die sich durch ihre Bildung von der Familie emanzipiert und entfernt hat. Jetzt ist sie schwanger, und es ist klar, dass sie zu diesem Zeitpunkt keine Familie gründen will. Als unverheiratete Schwangere hat sie das Gefühl, plötzlich ins Prekariat zurückzufallen: „Im Sex hatte mich meine Herkunft eingeholt, und was da in mir heranwuchs, war gewissermaßen das Scheitern meines sozialen Aufstiegs."

Dieses Scheitern gilt es zu vermeiden. Als die Krankenschwester die Sonde einführt, hat die junge Annie große Schmerzen. Nur bleibt die Fehlgeburt aus. Also muss die Studentin wieder nach Paris, sich noch einmal dem Eingriff unterziehen. Im Studentenheim von Rouen kommt es dann zur Fehlgeburt. Dabei verliert sie so viel Blut, dass sie ins Krankenhaus muss – jetzt hat Ernaux endgültig die Kontrolle über ihren Körper verloren.

Wenn die Autorin alle Details ihrer Fehlgeburt beschreibt, vom Durchtrennen der Nabelschnur über die Blutströme bis hin zum Entsorgen des Fötus in der Kloschüssel, ist das beim Lesen nur schwer zu ertragen. Doch wie in ihren anderen autofiktionalen Büchern schreibt sie nüchtern und präzise. Ernaux ist eine unlarmoyante Chronistin ihres Lebens, nicht umsonst bezeichnet sie sich als „Ethnologin ihrer selbst“.

Es ist, als hätte Ernaux alle unnötigen Gefühlsregungen aus ihrem Text herausgefiltert. Zu dem kargen Stil gehört, dass sie die Namen ihrer Protagonisten auf ihre Anfangsbuchstaben reduziert. Protokollarisch-distanziert wirken auch die stichwortartigen Kalendereinträge von damals, etwa: „Eine kurze, folgenlose Blutung. Genug, um meine Mutter zu täuschen.“

Ernaux hat das Buch 1999 geschrieben

Die Eindringlichkeit, die Annie Ernaux mit ihrer Kunst der Kondensierung erreicht, findet sich auch in der hervorragenden Übersetzung von Sonja Finck wieder.

Die Verdichtung ist übrigens nicht nur Erzählstrategie, sie entspricht dem Lebensgefühl der damaligen Studentin: Die Wochen der Schwangerschaft von Oktober bis Januar haben für sie eine befremdliche Intensität, sie fühlt sich, als wäre sie plötzlich herausgefallen aus der Zeit, aus ihrem normalen Leben, da ist ein Gefühl der Fremdheit gegenüber den anderen Menschen, gegenüber den sonstigen Fixpunkten ihren Alltags.

So liegt über der Schwangerschaft auch der Fluch der Einsamkeit. Da ist der Freund, der Erzeuger des Kindes, mit dem sie locker verbunden ist und der ihr emotional nicht zur Seite steht.

Da sind die Eltern, denen sie nicht zu beichten wagt, was passiert ist. Nur ein paar Kommilitonen wissen von der Schwangerschaft, manche sind „fasziniert“, für sie ist das alles „eine spannende Geschichte mit ungewissem Ausgang“.

Neben dem chronologischen Bericht über „Das Ereignis“ gibt es noch eine zweite Ebene in dem schmalen Buch: die Selbstreflexion. Ernaux hat ihr Buch 1999, rund 35 Jahre nach ihrer Schwangerschaft geschrieben. „Ich will in diesem Text nicht tun, was ich im echten Leben nicht getan habe oder nur ganz selten, schreien und weinen. Stattdessen nah dranbleiben am Gefühl eines gleichmäßig dahinfließenden Unglücks", schreibt sie. Eine Art Selbstabsolution, um ihren zurückgenommenen Ton zu rechtfertigen.

Warum hat Annie Ernaux, die später Mutter von zwei Söhnen geworden ist, dieses Buch überhaupt geschrieben, warum hat sie die Öffentlichkeit an ihrer intimen Erfahrung teilhaben lassen? Ernaux beantwortet die Frage selbst. Ihr sei es wichtig, „die Lebenswirklichkeit von Frauen“ nicht zu „verschleiern“, sie will sich nicht „zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt“ machen.

Es gibt einen weiteren Grund für dieses Buch, und der ist deutlich persönlicher. Nachdem es vorbei ist, nachdem sie die Ausschabung in der Klinik überstanden hat, empfindet Ernaux so etwas wie Stolz, „darauf, sich an einen Ort begeben zu haben, wo andere sich nie hinwagen würden“. In ihrem Zimmer im Studentenwohnheim hört sie die Johannespassion von Bach. Und fühlt sich plötzlich erleichtert, sie ist nicht mehr allein mit ihrem Schmerz. So kann sie schreibend das vergangene Schreckliche in einen persönlichen Sieg verwandeln. Und sich damit selbst erlösen.

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