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Tereza (Denise Weinberg) erfüllt sich noch einen letzten Wunsch, bevor die Gesellschaft sie loswerden will.

© Alamode Film/Guillermo Garza Desvia

„Das tiefste Blau“ im Kino: Hinter den Ufern wartet die Freiheit

Eine brasilianische Dystopie, in der alte Menschen in Kolonien abgeschoben werden? Das kann man auch mit Humor erzählen. Auf der Berlinale gewann „Das tiefste Blau“ den Großen Preis der Jury.

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Mit 77 Jahren hat Tereza es zum brasilianischen Nationalheiligtum geschafft. So erklärt es ihr die Regierungsbeamte, die eines Morgen vor der Haustür steht und einen Jubiläumskranz an die Fassade nagelt. Die Auszeichnung bedeutet zugleich ein Stigma: Tereza ist alt, zu alt. Sie mindert die Produktivität der Volkswirtschaft, obwohl sie immer noch ihrer Arbeit in einer Fabrik nachgeht, die Krokodile zu Konserven verarbeitet.

Ihre patriotische Pflicht besteht darin, den Jungen Platz in der Gesellschaft zu machen. Zu diesem Zweck hat die Regierung Kolonien gegründet, in die sie ihre Senioren abschiebt. Dabei hatte Tereza noch so viel vor. Einmal in ihrem Leben in ein Flugzeug steigen, zum Beispiel.

Eine 77-Jährige trotz den Verhältnissen

Der brasilianische Regisseur Gabriel Mascaro erzählt mit seiner sanften Dystopie „Das tiefste Blau“ eine schlüssige Allegorie auf das demografische Problem der gesellschaftlichen Überalterung. Und findet in seiner rüstigen Protagonistin Tereza, gespielt von einer unerschütterlichen Denise Weinberg, eine unwahrscheinliche Heldin, die sich gegen ein totalitäres System zur Wehr setzt, das die Würde des Individuums nicht achtet.

Die alten Menschen werden in Käfigen auf dreirädrigen Tuktuks, „Altenfängern“, eingesammelt und sind dazu verdonnert, Windeln zu tragen. Permanente Lautsprecherdurchsagen machen die Präsenz des Regimes spürbar, am Himmel kreisen Flugzeuge, die auf Spruchbändern das gemeinschaftliche Projekt proklamieren: „Die Zukunft gehört allen!“

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Mascaro zeichnet mit zurückhaltender Ironie das Bild einer Kontrollgesellschaft, die sich dem kapitalistischen Diktat unterworfen hat. Terezas Tochter verschwendet, so die offizielle Lesart, wertvolle Ressourcen mit der Vormundschaft für ihre Mutter – die überhaupt keine Hilfe benötigt. Aber Unterstützung von der Familie kann sie keine mehr erwarten.

Es ist Terezas Chef, der die alles entscheidende Frage aufwirft: „Haben sie keine Träume mehr?“ Und an genau dieser Stelle schlägt der „Das tiefste Blau“ in ein neues erzählerisches Register um, das der strukturellen Zumutung der Altersdiskriminierung eine kluge Gegenerzählung vorhält.

Tereza findet einen Skipper, der mit seinem Boot den Amazonas rauf- und runterschippert, ein Mensch, der wie sie aus der Gesellschaft gefallen ist – allerdings aus freien Stücken. Rodrigo Santoro, der in amerikanischen Großproduktionen schon als Jesus und persischer König Xerxes vor der Kamera gestanden hat, spielt diesen Cadu als einen Glücksritter, der im brasilianischen Urwald nach einer Wunderdroge sucht, welche es ihm ermöglicht, in die Zukunft zu blicken. Das blaue Schneckensekret tröpfelt man sich in die Augen und begibt sich dann auf einen Trip, der in „Das tiefste Blau“ eine andere Form von gesellschaftlicher Utopie darstellt.

Verwunschener Tempel oder Friedhof des Kapitalismus. Tereza (Denise Weinberg) versteckt sich im Dschungel.

© Alamode Film/Guillermo Garza Desvia

Tereza schippert eine Weile mit Cadu den Amazonas runter, es ist eine Reise in ein imaginäres, fast mythisches Brasilien, das sich da an den Ufern dieses gewaltigen Flusses angesiedelt hat. „Das tiefste Blau“ entstand noch unter dem Eindruck von Bolsonaros Schreckensregime, das eine andere Vormoderne zurückbringen wollte, in der alles Indigene aber keinen Platz mehr gefunden hätte. Cadu und Tereza sind Reisende an der Peripherie dieser Gesellschaft, die so fern von den Schauplätzen politischer Macht entfernt ist, dass sie fast einen Zustand von magischem Realismus verfasst.

Die haptische Realität des Dschungels

Einmal versteckt sich Tereza vor einem Polizisten in einem verlassenen Freizeitpark im Urwald, in dem riesige Figuren wie Totem-Objekte herumstehen. Im klassischen Abenteuerfilm würden die Entdecker an diesem Ort einen verwunschenen Tempel vorfinden, bei Mascaro ist es nur der Friedhof eines kapitalistischen Traums.

Guillermo Garzas filmt den Dschungel mit seinen flirrenden Lichtverhältnissen und seiner wuchernden Fauna gerade so unwirklich, dass er noch als haptische Realität spürbar bleibt. Während der Regisseur und sein Ko-Autor Tibério Azul das repressive System noch so unscharf konturieren, dass die politischen Zustände als Allegorie kenntlich bleiben.

Eine weitere Bewohnerin dieses peripheren Brasiliens ist eine Nonne (Miriam Socorrás), die an die Gläubigen am Flussufer digitale Bibeln verkauft. Sie selbst, erklärt Terezas Reisebekanntschaft, ist zwar nicht gläubig, aber ihre Existenz als nomadische Missionarin mit einer todsicheren Einnahmequelle, sei immerhin eine bessere Alternative zum Leben in einer Kolonie.

Und dann tröpfeln sich die beiden Frauen zusammen ebenfalls das bewusstseinserweiternde Schneckensekret in die Augen und erleben so auf ihre alten Tage eine zauberhafte Offenbarung. Sie verwandelt den allegorischen Charakter ihrer Reise doch noch in die greifbare Utopie einer altersgerechten Gesellschaft.

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