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Kultur: Der Berg der Wahrheit

Er machte die Ausstellung zum Kunstwerk: zum Tod des Schweizer Kurators Harald Szeemann

Einst wurden Ausstellungen von Kunsthistorikern aufgebaut. Seit Harald Szeemann sind sie selbst zu Kunstwerken geworden, zu Prozessen mit offenem Ausgang – zumindest die, die Szeemann selbst erarbeitet hat. Einige aus der beeindruckenden Anzahl haben nicht nur Furore, sondern geradezu Geschichte gemacht.

Den Anfang machte die Verhüllung der Kunsthalle Bern, das überhaupt erste Großprojekt von Christo 1968. Mit „When attitudes become form“ stellte der damalige Direktor des Berner Hauses 1969 erstmals in Europa die amerikanische Konzeptkunst vor. Damit handelte er sich in seiner Heimatstadt, in der er 1933 geboren und bereits im Alter von 28 Jahren als frisch gebackener Dr. phil. zum Leiter der Kunsthalle berufen worden war, so viel Ärger ein, dass er demissionierte. Stattdessen gründete er die „Agentur für geistige Gastarbeit“ und arbeitete fortan als freier Kurator, ja prägte überhaupt erst dieses Berufsbild.

Zum unbestrittenen Primus der Zunft wurde er 1972 mit der Kasseler documenta 5. Unter dem Titel „Befragung der Realität. Bildwelten heute“ sprengte er die tradierte Definition von Kunst und bezog Werbung, Medien und die von ihm stets liebevoll gepflegten „Individuellen Mythologien“ ein. Die Unterscheidung von Hoch- und Trivialkunst wurde ein für allemal hinfällig . Nie wieder entfaltete eine documenta solche Wirkung.

Es folgte 1975 die Ausstellung „Junggesellenmaschinen“, deren Titel auf Kafka und die literarischen Quellen von Kunst verweist. Danach ging Szeemann auf Spurensuche in der Künstler- und Aussteigerkolonie von Ascona. Unter dem Titel „Monte Verità“ machte die Wanderausstellung mit zahlreichen Versuchen bekannt, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu schließen. Dieses Generalthema Szeemannscher Untersuchungen – er selbst prägte den Begriff des „Museums der Obsessionen“ – kulminierte 1983 in der breit angelegten Ausstellung „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“, die wiederum Werke von Künstlern und Amateuren zusammenführte und so einen Begriff von Kreativität jenseits aller überkommenen Normen etablierte.

Als ständiger Gastkurator des Kunsthauses Zürich erarbeitete Szeemann zahlreiche Einzelausstellungen von Künstlern vorwiegend seiner eigenen Generation, denen er auch in Sammelausstellungen die Treue hielt. Es bildete sich im Laufe der Jahre so etwas wie ein Ausstellungsmodell, das der weltweit gefragte Kurator wie ein Regisseur immer wieder abwandelte. Als die Biennale von Venedig spürbar an Konzeptlosigkeit zu leiden begann, war es der im südschweizerischen Tegna lebende Szeemann, der ihr in seinem vierjährigen Direktorat zwischen 1998 und 2002 neuen Schwung gab. Insbesondere die Neuausrichtung der bis dahin dem Nachwuchs vorbehaltenen, von ihm selbst 1980 eingeführten Reihe „Aperto“ machte die Biennale wieder zum Brennpunkt der aktuellen Kunst.

So sehr Szeemann auch als Theoretiker hervortrat, so wenig ließ er sich in seinen Ausstellungen durch vorgefasste Konzepte einengen. Stets war er für Überraschungen gut, sei es, dass er unbekannte außereuropäische Gegenwartskunst vorstellte, sei es, dass er vermeintlich nicht mehr aktuelle Künstler „wiederentdeckte“. Seine umfassende Kenntnis und sein untrügliches Qualitätsbewusstsein garantierten stets für höchst anregende Ausstellungen. Zahlreiche Ehrungen, darunter der Berliner „Friedlieb-Ferdinand-Runge-Preis für unkonventionelle Kunstvermittlung“ 1997, waren die Folge. Am Freitag ist Harald Szeemann 71-jährig an einem Lungenleiden gestorben. Die Lücke, die er im Kunstbetrieb hinterlässt, wird bleiben.

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