zum Hauptinhalt
Antifaschistischer Schutzwall, Ghettomarkierung, Bildfläche. Die Mauer in den achtziger Jahren von der Kreuzberger Seite - und eine Aktionskünstlerin bei der Arbeit. Foto: Salzgeber

© Salzgeber

Ost-West-Geschichte: Der Bruder, die Stasi und die Tür in der Mauer

Die Gegenwart der Vergangenheit: Gerd Kroskes Dokumentarfilm „Striche ziehen“ erzählt eine unglaubliche Ost-West-Geschichte von Jugend und Verrat, Kunst und Protest. Ein Treffen mit den Protagonisten.

Dies ist eine Geschichte über die Mauer. Über Ost und West, über Bruderverrat und die Schwierigkeit, Opfer und Täter auseinander zu halten. Über Punks in Weimar und die autonome Szene im West-Berlin der achtziger Jahre. Über die Topografie des sanften Terrors der Stasi, über die Sprengkraft der Vergangenheit, 25 Jahre nach der Wende.

Anfangs, in West-Berlin, hat Frank Willmann einen regelmäßigen Albtraum. Dass er wieder zurück in der DDR ist, dass er flieht, dass er es schafft oder auf der Flucht erschossen wird. 1984 ist er ausgereist, einer der ersten aus der Weimarer Clique. Bald kommen viele der Punk-Freunde in den Westen, einige haben im Gefängnis gesessen. Wegen Wehrdienstverweigerung oder nach der Sprühaktion 1983, bei der sie Sprüche wie „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ oder „Alle Macht der Phantasie“ in der Goethe-Stadt an die Hauswände schrieben. Sie haben keine Zukunft in der DDR.

Bei einer Mauer-Kunstaktion in den Osten verschleppt

Sie sind jung, 17, 18, 19. Undergroundkünstler, Musiker, Spaßguerilla, irgendwo zwischen Dada und Anarchie. Die DDR sieht gefährliche Regimegegner in ihnen, zersetzt ihre Szene, statuiert ein Exempel. Und für einen der Freunde wird der Albtraum wahr, den Frank Willmann so häufig träumt. Wolfram Hasch, freigekauft aus dem DDR-Gefängnis, ist seit ’85 in Kreuzberg und wird bei einer Mauer-Kunstaktion der Clique wieder in den Osten verschleppt. Die Grenzer kommen durch eine Tür in der Mauer. Willmann kann gerade noch in die Büsche springen, Hasch hingegen bleibt einfach stehen. Er denkt wohl, es geht ihm wie dem kanadischen Mauerläufer John Runnings, und sie lassen ihn schnell wieder frei. Es ist der 4. November 1986. Eine skurrile Meldung in der Abendschau.

„Striche ziehen“ heißt der Dokumentarfilm von Gerd Kroske. Wer ihn sieht, dem geht es ähnlich wie bei der Lektüre des zugrunde liegenden Buchs von Frank Willmann und Anne Hahn, „Der weiße Strich“ (Chr. Links Verlag, Berlin 2011): Es verschlägt einem den Atem. Diese deutsch-deutschen Geschehnisse haben die Dimension einer griechischen Tragödie.

Bei der Kunstaktion sind sie zu fünft. Die Idee stammt von Jürgen Onißeit, auch einer aus dem Weimarer Freundeskreis, der in Kreuzberg gelandet ist. Er hasst die DDR, will sie markieren als das, was sie ist: ein Ghetto, an dessen Grenze Menschen erschossen werden. Sie wollen eine weiße Linie auf den antifaschistischen Schutzwall malen, über die Graffitis hinweg, damit die Wessis die Mauer mal wieder als Mauer wahrnehmen, nicht nur als Bildfläche. Sie beginnen am 3. November, auch Jürgens Bruder Thomas ist dabei, beide wohnen in einer WG am Mariannenplatz.

Aktionen gegen die Mauer galten als reaktionär

Heute sagt Thomas Onißeit, dass sie als Ex-DDRler in der Kreuzberger Subkultur zwischen allen Stühlen saßen. Die Weimarer gingen auf die legendäre Schule für Erwachsenenbildung am Mehringdamm, weniger um das Abi nachzumachen als wegen des Bafögs. Die autonome Szene dort, „diese Leute, die sich ideologisch dem Osten anbiederten, hatten ein Riesenproblem mit uns“. Aktionen gegen die Mauer galten als reaktionär. Beschämend zu hören, mit welcher Ignoranz die politische Linke West-Berlins jenen begegnete, die in einem Unrechtsstaat auf ihrer Freiheit beharrten.

Die Mauermaler tragen Gipsmasken, sie ziehen einen Bollerwagen mit Farbeimer, Getränken und einem Zelt hinter sich her. Vom Mariannenplatz aus wollen sie den weißen Strich über alle 166 Mauer-Kilometer ziehen. Sie kommen nur bis zum Lenné-Dreieck, dort wird Wolfram Hasch am nächsten Morgen verhaftet. Wieder Gefängnis, diesmal in Bautzen, im Juni 1987 kauft der Westen ihn ein zweites Mal frei. Es traumatisiert ihn, bis heute. Der Freundeskreis zerfällt.

 Deutsch-deutsche Tragödie. Jürgen Onißeit (lange Haare) und sein Bruder Thomas (mit Brille).
Deutsch-deutsche Tragödie. Jürgen Onißeit (lange Haare) und sein Bruder Thomas (mit Brille).

©  Salzgeber

Frank Willmann sitzt in seinem Arbeitszimmer in einer Genossenschaftssiedlung am Nordbahnhof, nicht weit von der Gedenkstätte Bernauer Straße entfernt. Er arbeitet als Journalist und Publizist, (auch für den Tagesspiegel), hat etliche DDR-Geschichten geschrieben, Bücher über Undergroundkünstler, Fußballfans und Hooligans im Osten verfasst. Aus seinem Fenster kann er auf den Mauerstreifen gucken. Genau hier, sagt er, hat Wolfgang Fittinger noch einen zweiten Mann verhaftet. Fittinger ist der Grenzaufklärer, der am Lenné-Dreieck durch die Mauertür kam. Im Film sagt er: „Befehl von oben“. Die Obrigkeit fand, dass die Mauermaler die Grenzlinie verschieben, die ja westlich der Mauer verlief. Angeklagt wurde Hasch aber wegen illegalem Grenzübertritt, von Westen nach Osten.

Fittingers Uniform hängt an der Wand, als er vor der Kamera Auskunft gibt, daneben seine Orden und Abzeichen. Das eigene Leben, ein Militärmuseum. Ein Rentner in einer Datsche, wie so viele frühere DDR-Offizielle.

Dass Willmann am Mauerstreifen wohnt, ist Zufall, er ist nicht auf die Mauer fixiert. Er ist ein Davongekommener. Und er nennt sich einen Hobbyforscher. Weil sich sonst kaum einer kümmert um die kleinen Schicksale, in denen die große Zeitgeschichte aufgehoben ist.

Sprayen am Mariannenplatz

Auch für Thomas Onißeit war die DDR weit weg – bis die Weimarer sich 2004 wiedertreffen. Gemeinsam verbringen die Freunde einen Tag in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, nehmen sich Zeit, schreiben ihre Geschichten auf („Macht aus dem Staat Gurkensalat“, wjs verlag, Berlin 2011). Der Osten ist für sie noch nicht erledigt. Im Film geht Onißeit wieder an die Orte des Geschehens: wo sie gesprayt haben, ins ehemalige Weimarer Volkspolizei-Kreisamt, an den Mariannenplatz, an die Mauer. Kroske arbeitet oft so. Vor Ort sein, sagt er, macht die Erinnerung konkret, legt Vergangenheit frei. Der Dokumentarfilmer, ein Archäologe, der die Topografie des Unrechtsstaats erkundet.

Thomas Onißeit lebt heute als Grafikdesigner in Dresden. Er kommt nach Berlin, weil wir mit dem Filmemacher über „IM Onne“ reden wollen. Bei den Buchrecherchen war in einer Akte ein Hinweis auf einen Stasi-Spitzel aufgetaucht. Onne, so lautete der Weimarer Spitzname von Jürgen Onißeit. Der Verdacht erhärtete sich: Ausgerechnet der spätere Mauerstrich-Initiator hatte die Sprühaktion der Freunde in Weimar verraten und sie so ins Gefängnis gebracht. Zwar nannte er seinen Bruder nicht explizit, aber auch Thomas wurde verhaftet.

Das Drama zweier Brüder

Seit dem Fall Sascha Anderson gab es etliche Verrats- und IM-Enthüllungen. Diese hier ist schon deshalb besonders, weil jahrzehntelang niemand etwas ahnte. Thomas und die anderen hätten die Hand für Jürgen ins Feuer gelegt. Freundesverrat, Bruderverrat: Was Frank Willmann mehrfach erlebte – er war auch mit Anderson befreundet gewesen –, für Thomas Onißeit ist es ein Schock. „Striche ziehen“ ist vor allem ein Film über das Drama der Brüder. Eines, das sich hier und heute abspielt, mitten in Berlin.

Im Film spricht Jürgen Onißeit zunächst freimütig über seinen Verrat als „riesengroßen Fehler“ und das „schnöde wirtschaftliche Interesse“, mit schwangerer Freundin im Weimarer Winter etwas Kohlengeld zu verdienen. Er habe gedacht, das händeln zu können. Aber beim zweiten, dritten Treffen mit der Stasi habe er gemerkt: „Alter, du hast so ne Scheiße gebaut, da kommst du nicht mehr ordentlich raus“. Dann wird es kompliziert, er betont den eigenen Opferstatus, die Schizophrenie sei vorprogrammiert. Schließlich war auch er im Gefängnis. Eigentlich ein sympathischer Typ, dieser „IM Onne“. Ein Altfreak mit langem Haar, der als Kletterlehrer in der Prignitz arbeitet, sich nicht versteckt, sich der Kamera und seiner Vergangenheit stellt. Mitunter beschimpft er Gerd Kroske beim Dreh, gibt aber weiter Auskunft und schlägt sich mit der eigenen Scham und Schuld herum.

Der Bruder hat nie versucht reinen Tisch zu machen

„Freundesverrat ist für mich die schlimmste Form des Verrats“, erklärt Thomas Onißeit. „Jedenfalls wenn keine Erpressung vorliegt. Er setzt voraus, dass man die eigenen Freunde nicht wertschätzt. Jürgen hat nicht nur geplappert, er hat es für Geld gemacht. Er war der Stasi infolge eines Berlin-Ausflugs als besonders redselig aufgefallen, als er dort mit anderen Punkern verhört wurde. So fing es an. Er war 19, aber mit 19 ist man kein Kind mehr. Und er hat später nie versucht, reinen Tisch zu machen. Die Enttarnung kam ja nicht freiwillig.“

Nach dem ersten Schock wollte der Bruder vor allem eins: verstehen, wie es dazu kam und warum Jürgen später nie etwas sagte. „Warum ist er nicht auf uns zugekommen?“ Das macht ihn wütend: dass Jürgen sich ihm und den anderen gegenüber nie so öffnete, wie er es anfangs vor der Kamera tut. Dass er keine Verantwortung übernimmt. Stattdessen Schutzbehauptungen, Psycho-Ausreden. Im Film sagt Jürgen Onißeit, er habe im Westen einen Schlussstrich ziehen wollen - was ein anderes Licht auf seine Mauerstrich-Idee wirft. Im Hass auf die DDR steckte Selbsthass. Es war eine Übersprungshandlung, meint Kroske.

Kroske ist ein Brückenbauer. Es stört ihn, dass trotz der Aufarbeitungsindustrie, trotz all der Gedenkstätten, Filme, Bücher bis heute kein Klima entstanden ist, „das den Charakterschwachen, den Verrätern, einen Verständnisraum gibt“. Die Generation der älteren DDR-Funktionäre sei mit der Wende weitgehend unbehelligt in Rente gegangen. „Die Jüngeren hingegen, die kleinen Verräter, bekommen die gesellschaftliche Ächtung ab. Es läuft immer auf eine Stigmatisierung hinaus, auf das Schwarz-Weiß-Schema Täter/Opfer. Jürgen ist beides.“

Kann man einem Stasi-Spitzel verzeihen?

Thomas Onißeit stimmt ihm zu: „Eins der drei Millionen früheren SED-Mitglieder zu sein, die mit ihrer Mitgliedschaft die Verbrechen der Stasi deckten, das gilt nicht als Makel.“ Als die Mauer fiel, fand er es unerträglich, wenn die Leute Grenzer umarmten und ihnen Blumen schenkten. „Eine Woche vorher hätten die noch geschossen. Zum 25. Jahrestag des 9. November ehrt man ausgerechnet den Mann, der vor lauter Verzweiflung den Schlagbaum öffnete, als Hunderte gegen ein paar Grenzsoldaten andrängten. Und nach der TV-Ausstrahlung von ’Bornholmer Straße’ reicht man ihn auch noch als Helden durch die Talkshows.“ Und erst die Musealisierung und Simplifizierung der DDR in den Gedenkstätten. Er hat es selber erlebt, etwa in „seinem“ Gefängnis in Erfurt, wie die Betroffenen aus der Gestaltung der Erinnerung hinausgedrängt werden. Lauter Brücken, über die Jürgen Onißeit hätte gehen können. Nicht zuletzt dank der beharrlichen Vermittlungsversuche des Regisseurs zeigt der Film die Möglichkeit eines Dialogs auf, die winzige Chance auf Verständigung, vielleicht sogar auf Versöhnung. Bis zu dem Moment, als dieser irrwitzige Kraftakt sich als vergeblich erweist. Manchmal ist die Wunde DDR nicht therapierbar.

Viele stellen sich jetzt erst ihrer DDR-Biografie

Der Showdown findet auf offener Bühne statt, am Mariannenplatz, vor dem Künstlerhaus Bethanien. Die Brüder treffen sich, erstmals, seit der Verrat bekannt ist. Sie gehen aufeinander zu, vor laufender Kamera, ein Moment der Vertrautheit, der Nähe. Aber es funktioniert nicht. Jürgen echauffiert sich, sagt, ich habe keinen verraten, zerrt sich das Mikro vom Leib, läuft weg, kommt zurück. Dann zieht es Thomas weg, er bleibt aber doch, zornig, perplex. Die Kamerafrau Anne Misselwitz dreht geistesgegenwärtig weiter und zeichnet den Tanz der Brüder auf, die Choreografie eines Scheiterns. Der eine will über seinen Schatten springen, aber der Selbstschutz ist stärker. Der andere reicht die Hand und verletzt sich am Egoismus des Bruders. Jürgen Onißeit reißt die Brücken ab.

Politiker und Bürger diskutieren derzeit über ein Denkmal für die Opfer der DDR. Viel zu früh, finden Kroske und Thomas Onißeit. Frank Willmann möchte vor allem, dass die noch nicht erzählten Geschichten recherchiert werden. Etwa die der Grenzaufklärer, die die Grenzbewacher bewachten und Privilegien hatten. Oder die Verstrickung westlicher Institutionen mit der Staatssicherheit. Und bitte keinen erschwerten Aktenzugang; die Stasi-Unterlagenbehörde darf noch nicht ins Bundesarchiv, weil viele sich erst jetzt ihrer Biografie stellen, all dem, was zwischen Schwarz und Weiß liegt. Es gab den Ostseestrand und Hohenschönhausen, wie Roland Jahn es formulierte, da braucht es keine dramatischen Gedenkstätten-Inszenierungen. Die Wahrheit, sagt Thomas Onißeit, ist heftig genug.

„Striche ziehen“ läuft am Sonntag, 19. April, beim „Achtung-Berlin!“-Festival (Babylon Mitte, 20 Uhr) in Anwesenheit des Filmemachers und etlicher Protagonisten und kommt am Donnerstag in die Kinos.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false