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Das „Le Vieux Belleville“ ist ein beliebter Treffpunkt im Einwandererviertel.

© Foto: Coccinelle Films

Der Dokumentarfilm „Belleville, Belle et Rebelle“: Die Welt trifft sich im Bistro

Hier erklingen auch Edith-Piaf-Chansons: Die Wahlpariserin Daniela Abke proträtiert in ihrem Film eine legendäre Kneipe in der französischen Hauptstadt

Das „Le Vieux Belleville“ im Pariser Stadtteil Belleville ist auf den bekannten Reiseführerseiten im Internet leicht zu finden. In den zahlreichen Bewertungen lobt man die einfache Einrichtung und die ehrliche Küche, warnt vor Lärm („Babies might not be appropriate“) und schwärmt insbesondere von den allabendlichen Musikdarbietungen, die von Arbeiterliedern bis hin zu Edith-Piaf-Chansons das gesamte traditionelle Repertoire der französischen Volkslieder umfassen.

„Die Sängerin brauchte nicht allzu viel zu animieren und schon sangen alle Tische mit. Die völlig verfleckten Textblätter, welche sie dazu austeilte, unterstrichen diesen etwas anderen Charme des ganzen Abends“, heißt es in einem Kommentar.

Die in Paris und Bielefeld lebende Filmemacherin Daniela Abke hat mit „Belleville, Belle et Rebelle“ dem charismatischen Musette-Bistro nun ein filmisches Denkmal gesetzt. Der Film beginnt fast wie ein Theaterstück – der Besitzer Joseph Pantaleo öffnet die Türen seines Cafés, der „Vorhang“ lüftet sich – und ist nah am Musical gebaut.

Denn auch außerhalb des Musikprogramms findet ständig jemand einen Anlass, plötzlich loszusingen. Und zwar immer und überall: auf dem Friedhof, auf den Straßen, zu Hause. Aber vor allem im „Vieux Belleville“.

Der Dokumentarfilm porträtiert sechs Charaktere des Viertels, die zu den Stammgästen des Bistros gehören. Abke verzichtet auf klassische Interviews und lässt bei Gesprächen die Kamera oft lange mitlaufen. Dabei entziehen ihre offene Beobachtung und die kontrastarmen Schwarz- Weiß-Bilder der mitunter postkartenartig nostalgischen Szenerie alles Touristische.

Die Protagonist:innen von „Belleville, Belle et Rebelle“ kommen aus Frankreich, Tunesien, Spanien und Schottland. Berührungen mit maghrebinischen, afrikanischen oder chinesischen Bevölkerungsgruppen, die im Einwandererviertel Belleville die größten Communitys bilden, gibt es jedoch nur ganz am Rande.

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Belleville ist traditionell linksgerichtet und atmet auch noch 150 Jahre nach der Niederschlagung den Geist der Pariser Commune. Am 1. Mai ist für den Basken Lucio Urtubia ein Besuch am Grab von Eugène Pottier, Sozialist und Textdichter der Internationale, Pflicht. „Warum sind die Franzosen heute so reaktionär?“, fragt der rüstige alte Mann mit der Baskenmütze den Friedhofsführer am Père Lachaise.

Der wegen Scheckfälschung mehrfach inhaftierte Anarchist und Maurer leitet das Kulturzentrum „Espace Louise Michel“, benannt nach einer Anarchistin und Schulleiterin, die während der Pariser Commune als Krankenpflegerin aktiv war. Lucio ist äußerst umtriebig und debattenfreudig. Unter anderem setzt er sich für die Freilassung einer im Knast sitzenden ETA-Aktivistin ein.

Im Quartier fanden sich auch die Drehorte für „Jules et Jim“

Alle Figuren rund um das Bistro sind auf die eine oder andere Weise Chronisten ihres Viertels und mit der Vergangenheit befasst. Steven, schottischer Künstler und Bistromaler, pinselt im „Vieux Belleville“ eine historische Straßenszene an die Wand. Der Schriftsteller und Fotograf Robert Bober arbeitete als Regieassistent für Truffaut und fand im Quartier die Drehorte für „Jules et Jim“. In seinem Gedächtnis scheint er jede baumaßliche Veränderung abgespeichert zu haben.

Riton la Manivelle, Bariton und Drehorgelspieler mit Seehundbart, gibt zwischen seinen Liedern gerne mal einen Auffrischungskurs in Geschichte. Ein Stück weit sieht er sich auch in der Figur gefangen, die er seit vielen Jahren für sein Publikum verkörpert. Aber die Leute hätten nun mal eine Sehnsucht nach einer Welt, in der es noch Klassenkampf gab.

Höhepunkt der Abende im „Vieux Belleville“ sind die Auftritte von Minelle. Die mit Armreifen und Ketten schwer behängte Sängerin und Akkordeonistin stammt aus einer bürgerlichen Familie und hat vierzig Jahre lang Sport an einem Collège unterrichtet. An ihren Abenden singt das ganze Lokal mit, die Texte zu den Liedern liegen auf den Tischen aus. Eine Wiederbelebung der sogenannten petits formats, kleine Liedblätter mit Noten, die früher in den Straßen der Arbeiterviertel verkauft wurden: für Menschen, die kein Geld hatten, sich ein Radio zu kaufen.

„Belleville, Belle et Rebelle“, der in Berlin im Bundesplatz-Kino zu sehen ist (OmU), zeichnet eine aus der Zeit gefallene – und komplett analoge – Welt. Hier schreibt noch jeder und jede mit der Hand und hat alle Zeit der Welt, sich den Kopf heißzureden. Und zu singen. Esther Buss

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