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Kalte Kriegerinnen: Elisa Carricajo, Laura Paredes, Valeria Correa und Pilar Gamboa (v. li.) müssen sich auch gegen ein weibliches Killerkommando zur Wehr setzen.

© Grandfilm

Der 14-stündige Kinofilm "La Flor": Der Fluch der Zombiekatze

Spiel mit Genres: Das 14-stündige Mammutwerk „La Flor“ ist in der Kinogeschichte einzigartig.

Von Andreas Busche

Starrt man lange genug auf Bäume, blicken diese irgendwann zurück. Die Bäume, die wie gewaltige Tentakeln in einem Science-Fiction-B-Movie aus dem Boden wachsen, haben knorpelige Augen. Ihr trüber Blick erinnert den Regisseur, der aus dem Off spricht, an Alkoholleichen am Tresen einer Weltraumspelunke in einer fernen Galaxie. Und plötzlich, nach 666(!) Minuten, stehen wie ein kleines Kinowunder – oder eher: eine kinematografische Halluzination – rosa Bäume in der Landschaft herum.

Mariano Llinás, der die Zeit und Raum aushebelnde Phantasmagorie ersponnen hat, ist an diesem Punkt der Dreharbeiten längst dermaßen verzweifelt, dass die Übergänge von der Fiktion zur Realität auf einmal fließend erscheinen. Er hat sich mit seinen vier Darstellerinnen nach fünf Jahren überworfen; und sind Bäume nicht ohnehin viel interessanter als Menschen? Sie wollen wenigstens keine Erklärungen. Denn warum sollte ausgerechnet er als Regisseur einen Begriff davon haben, was hier gerade wie von einer fremden Macht geleitet entsteht? Als Zuschauer, je nachdem, von welchem Einfallspunkt man in diese entropische, in alle Richtungen und Genreausprägungen wuchernde Erzählung hineingeraten ist, beginnt man das Delirium des argentinischen Regisseurs nachzuempfinden.

Der Regisseur muss seinen Film vor der Kamera erklären

„La Flor“ ist ein Film wie kein zweiter. Seit seiner Premiere in Locarno im vergangenen Sommer eilt sein Ruf ihm voraus, vornehmlich aufgrund der Länge. Mit fast 14 Stunden – 868 Minuten, um genau zu sein, inklusive eines 40-minütigen Abspanns – stellt das Gemeinschaftsprojekt des argentinischen Filmkollektivs El Pampero Cine und der Theatergruppe Piel de Lava zweifellos eines der ambitioniertesten Werke in der Geschichte des Kinos dar. Vergleichbar mit Bela Tarrs siebenstündigem „Sátántangó“, Jacques Rivettes „Out 1“ (13 Stunden), Andy Warhols Langsamkeitsstudie „Empire“ oder dem Gesamtwerk des philippinischen Regisseurs Lav Diaz. „La Flor“ ist so kompliziert, dass Llinás sich am Anfang auf eine Parkbank setzt, um dem Publikum mit Stift und Zettel seinen Film zu skizzieren.

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Die Kurzfassung: „La Flor“ besteht aus drei Kapiteln, unterteilt in insgesamt acht Akte. Die einzelnen Akte sind in sich geschlossen, überlappen sich gelegentlich jedoch. Sechs von ihnen haben kein Ende, einer hat keinen Anfang, und nur die vorletzte Geschichte – eine Stummfilm-Reimagination von Renoirs „Eine Landpartie“, die tatsächlich wie eine Botschaft aus der Vergangenheit anmutet – verfügt, ganz klassisch, über beides. Die Kapitel erkunden unterschiedliche Genres, wobei die 80er-Jahre-Agentengeschichte im Mittelteil mit 320 Minuten die meiste Zeit beansprucht. Die vier Darstellerinnen Laura Paredes, Elisa Carricajo, Pilar Gamboa and Valeria Correa, die neun Jahre mit Llinás an dem Projekt gearbeitet haben, tauchen in sieben Kapiteln in unterschiedlichen Rollen auf. Ihre gestaltwandlerischen Fähigkeiten – sowie ihnen beim Älterwerden zuzusehen – machen neben den virtuosen Genreverschiebungen die Faszination dieses Mammutwerks aus. Zeit ist ein ganz entscheidendes Kriterium in „La Flor“, das die Seherfahrung maßgeblich beeinflusst.

14 Stunden Lebenszeit für die exaltierte Kinofantasie

Llinás bietet verschiedene Zugänge. Im Kino Arsenal ist „La Flor“ in den kommenden beiden Wochen in zwei Formaten zu sehen: kapitelweise an drei Abenden, in der Wiederholung laufen die Akte dann einzeln. An der Chronologie ist vorerst nicht zu drehen, diesen Spaß kann man sich später auf den Streamingplattformen machen, wo „La Flor“ ein langes Leben zu wünschen ist. Denn Llinás Film ist nur der Form nach eine konzeptuelle Spielerei. Im Dialog zwischen den unterschiedlichen Ästhetiken, den idiosynkratischen Sprach-, Erzähl- und Genreregistern offenbart sich der eigentliche Spaß von „La Flor“. Und die Genialität des Regisseurs.

Die offensichtliche Frage, warum man 14 Stunden Lebenszeit für die exaltierte Kinofantasie eines manischen Filmemachers opfern sollte, hat sich im Zeitalter von „Binge Watching“ oder gefühlten 5000 Stunden „Marvel Cinematic Universe“ längst erübrigt. So exzessiv die Grundidee dieses Unterfangens auch erscheinen mag: „La Flor“ ist die vielleicht einzig zeitgemäße Form des Kinos. Eine Kollektivarbeit, die den gemeinsamen Schaffensprozess zelebriert, die Kinogeschichte aufsaugt, reflektiert und in kluge, (großenteils) äußerst unterhaltsame, immer wieder auch mäandernde Geschichten morphen lässt. Und ein Film, der die Liebe zum Genrekino in seinen absurden, mitunter an Borges erinnernden Gedankenspielen nachvollziehbar macht. Im ersten Akt kämpft eine Wissenschaftlerin gegen eine Mumie auf der Suche nach ihren verlorenen Augen (rot leuchten sie!), eine Zombiekatze spielt ebenfalls eine Rolle. Im letzten Kapitel fliegt eine der Frauen auf einem Hexenbesen davon.

Llinás geht es dabei weder um die originalgetreue Anverwandlung von Genres, das gäbe schon sein Budget nicht her, noch – im Stil von „Dogville“ – um theaterhafte Abstraktionen. „La Flor“ stellt vor allem die Bühne für seine fabelhaften Darstellerinnen, ihnen ist der Film gewidmet. Gamboa zum Beispiel wechselt traumwandlerisch von der nervigen Schlagerdiva zur stummen Killerin. Das Zerwürfnis zwischen Llinás und seinen Darstellerinnen ist natürlich auch nur eine Finte. Ohne echte Liebe kann ein Regisseur so ein Projekt wohl kaum stemmen, wenn er nicht zum völligen Narzissten mutieren will.

- Ab Donnerstag im FSK, vom 1. bis 14. August in der Brotfabrik und Kino Wolf. Noch bis zum 28. Juli im Arsenal

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