
© Photo: Marco Borggreve
Der frühe Vogel: Wie das Konzerthaus am Gendarmenmarkt Neues ausprobiert
Beginn um 20 Uhr? Das ist nicht mehr in Stein gemeißelt. Am Berliner Konzerthaus startet jetzt eine Reihe mit Musik, die man kurz nach Feierabend hören kann.
Stand:
Wollte man das ganz große Fass aufmachen, könnte man sagen: Die klassische Musik steht vor der gleichen Herausforderung wie die Katholische Kirche. Die Welt wird rasant schneller, kurzatmiger, süchtig nach Reizen, Klicks, Likes. Soll man mitmachen, sich wandeln, anpassen, „mit der Zeit gehen“? Oder im Gegenteil gerade nicht, gerade auf dem Eigenen bestehen, den – wie Werber sagen würden – „Markenkern“ nicht verraten, Attraktivität ausstrahlen durch aufrechten Gang?
Das Konzerthaus am Gendarmenmarkt versucht es seit Iván Fischers Jahren mit einem Spagat: Klassische Symphoniekonzerte prägen weiterhin das Programm, doch werden ihnen neue Formate zur Seite gestellt, die Rituale aufbrechen und ein etwas anderes Publikum locken sollen, etwa die „Mittendrin“-Konzerte oder „2x Hören“.
Perfekt für gestresste Werktätige
In diese Reihe gehören auch die Kurz-Konzerte, von denen jetzt eine neue Serie gestartet ist. Los geht’s schon um 18.30 Uhr, perfekt für gestresste Werktätige, die sich nach Feierabend und vorm Restaurant bei Kultur entschleunigen wollen. Das leidige Problem, dass es vor den 20-Uhr-Konzerten fürs Abendessen zu früh, danach zu spät ist, erledigt sich auf diese Weise tatsächlich elegant – um den Preis, dass nach einer Stunde schon alles vorbei ist.
Kurzer Check am Donnerstagabend: So ganz scheint das Konzept noch nicht aufzugehen. Im trotz der frühen Stunde recht ansehnlich gefüllten Saal sitzen keine Bürohengste, sondern das angestammte bildungsbürgerliche Publikum, das jetzt eben einfach eineinhalb Stunden eher erscheint. Zwei Mitglieder des Konzerthausorchesters stellen das Konzept vor, einer auf Deutsch, eine auf Englisch, ohne jeweils dasselbe zu sagen, das ist schon mal sympathisch. Ansonsten bleibt die angekündigte Lockerheit aber eher Behauptung, das Licht soll gedimmt werden, bleibt aber genauso hell wie immer.
Chefdirigent Christoph Eschenbach leitet in einem seiner letzten Konzerte, bevor im Herbst Joana Mallwitz seine Nachfolge antritt, Sergej Prokofjews 5. Symphonie, als einziges Stück auf dem Programmzettel. Uraufgeführt im Januar 1944 im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums, scheint sie schon aufgrund der Zeitumstände eine Kriegssymphonie zu sein, wenn auch nicht so programmatisch offensichtlich wie Schostakowitsch‘ Leningrader Symphonie. Man hört sie heute auch als Dokument einer Zeit, in der von Moskau ein, wenn man so will, „gerechter“ Verteidigungskrieg geführt wurde. Lange her.
Für Prokofjew – der übrigens, das nur nebenbei, in einem Dorf bei Bachmut zur Welt kam – stand in den 1940er Jahren nicht mehr Provokation im Zentrum seines Schaffens, vielmehr Eingängigkeit und Verständlichkeit, ohne deshalb ins Banale abzurutschen, was auch im Sinne der Sowjetführung gewesen sein dürfte. Die 5. Symphonie drückt das aus. Bukolisch, fast brahms-artig hebt sie an, doch Hell und Dunkel liegen hier eng beieinander, Stimmungen wechseln abrupt, bedrohliche Töne vor allem in den Bläsern durchflechten das Gewebe.
Ganz anders der zweite Satz, ein irrlichterndes Scherzo, das marcato zu spielen ist, mit Druck und Kraft auf dem einzelnen Ton. Während der dritte Satz die verhaltene Stimmung des ersten aufgreift, bezieht sich der Finalsatz mit einem tumultösen Tanz aus schwankenden Rhythmen auf den zweiten. Eschenbach findet für jeden Augenblick die richtige Temperierung, dirigiert scharfkantig, wenn es sein muss, schaltet dann ohne zu Zögern in den Melancholie-Modus um.
Der Abend ist noch jung: Zumindest in der Theorie können Besucher im Anschluss im Beethoven-Saal einen Drink nehmen und dabei mit den Musikerinnen und Musikern des Konzerthausorchesters ins Gespräch kommen, die sich ebenfalls dazugesellen. Klassik zum Anfassen. Der Rezensent hat dieses Get-together nicht besucht, aber die Menge der nach dem Applaus zu den Garderoben und Ausgängen strebenden Menschen lässt darauf schließen, dass diese Idee offenbar erst noch angenommen werden muss.
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