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Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielt zum Jahresausklang im Konzerthaus Beethovens 9. Symphonie.

© Peter Meisel

Zum Jahreswechsel Beethovens Neunte mit dem RSB: Wenn sie schon sein muss, dann so

Kein Jahresausklang kommt an ihr vorbei: Im Konzerthaus führt das Rundfunk-Sinfonieorchester Beethovens 9. Symphonie auf. Doch etwas ist anders dieses Mal.

Es gibt gute Gründe, Beethovens Neunte unerträglich zu finden. Weil sie so extrem nach außen gewendet ist, weil sie ihre Botschaft wie eine Monstranz vor sich her trägt und damit logischerweise billiges Opfer aller möglichen Zuschreibungen und Instrumentalisierungen wird. Und dann der Text! In Europa wird ein Land grundlos und barbarisch überfallen, und „alle Menschen werden Brüder“, ernsthaft? Auch nach 200 Jahren ist diese Utopie nicht eingelöst, 2022 aber schmeckt Schillers Idealismus besonders schal, der Götterfunken zündet nicht mehr.

Gefangen in der Aufführungtradition

Dazu kommt, dass die Neunte gefangen ist in ihrer Aufführungstradition, immer wieder wurde sie für staatstragende Ereignissen aufmöbliert, nationalsozialistische wie kommunistische Machthaber haben sich bei ihr bedient. Ist es überhaupt möglich, diese Symphonie „einfach so“ ins Programm zu nehmen und sie als das zu hören, was sie auch ist – fantastisch komponierte Musik? 

„Wir haben überlegt, die Neunte dieses Jahr nicht zum Jahreswechsel zu spielen“, verrät Vladimir Jurowski am Freitag vor Silvester im Konzerthaus. Jetzt ist sie doch erklungen, aber anders als gewohnt. Schon seit einigen Jahren versucht das Rundfunk-Sinfonieorchester, der d-Moll-Symphonie ein neues Framing zu geben, 2017 etwa wurde Schönbergs „A Survivor from Warsaw“ zwischen die Sätze montiert.

Nach den ersten beiden Sätzen übernimmt eine Dirigentin aus der Ukraine

Dieses Jahr ist dem Werk ein neu komponierter Prolog von Ralf Hoyer vorangestellt – und das Dirigat geteilt: Jurowski übernimmt nur die ersten beiden Sätze, übergibt den Taktstock dann an die ukrainische Dirigentin Natalia Ponomarchuk. Eine verständliche, überzeugende Geste, auch wenn sie diese ohnehin schon semantisch überfrachtete Symphonie mit noch mehr politischer Bedeutung auflädt. 

Hoyers „Prolog“ erfährt seine Uraufführung wegen der Pandemie zwei Jahre verspätet. Autorin Kerstin Hensel hat ihm eine moderne Neufassung von Schillers Text für Mezzosopran (Karolina Gumos) geschrieben, stellt den Brüdern die Schwester zur Seite und gendert auch den Tod zur „Tödin“. Musikalisch beginnt es mit fast unhörbaren, dynamisch anschwellenden Streichern, die rasch in die ersten knalligen Akkorde münden.

Eine Menge musikalischer Energie tobt sich in 25 Minuten aus, aber wiedererkennbare Motive und Themen, die man ein zweites, fünftes, zehntes Mal hören möchte, gibt es – wie so häufig in der Neuen Musik – fast gar nicht, von den schwelgenden Streicherkantilenen im Mittelteil abgesehen.  

Die urkainische Dirigentin Natalia Ponomarchuk übernimmt nach den ersten beiden Sätzen.
Die urkainische Dirigentin Natalia Ponomarchuk übernimmt nach den ersten beiden Sätzen.

© Peter Meisel

Immerhin, die Ohren sind jetzt aufgesperrt für Beethoven. Jurowski wirft Feuerbänder aus, macht mächtig Druck im Kessel, schnell, expressiv, schroff fast. Immer wieder führt er sein Orchester an die äußerste Grenze der Balance, ohne sie zu zerbrechen, auch im Scherzo mit dem wie Regentropfen fallenden Oktavmotiv. Nie pfropft er der Musik hohles Pathos auf, spielt vielmehr souverän mit Crescendo und Decrescendo, scheint genau zu erfühlen, welches Tempo eine Phrase jeweils braucht.

Als Ponomarchuk übernimmt, wird es weicher, fließender, was aber auch damit zu tun haben kann, dass der langsame dritte Satz sowieso von ganz anderer, bukolischer Anmutung ist. Im Finalsatz, den Wagner als die „Bankrotterklärung der instrumentalen Symphonik“ empfand, greift auch sie kräftig zu.  

Von den Kontrabässen bis zu den hohen Streichern durchläuft das Freudenthema seine Entwicklungsstufen, Bassist Markus Marquardt meistert den hohen Quintsprung, mit dem er unmittelbar zu Beginn des vokalen Parts einsteigen muss, während Tenor Jeremy Overenden mit kleiner Stimme enttäuscht, die auch im weiteren Verlauf hörbar eine Leerstelle hinterlässt. Der von Justus Barleben einstudierte Rundfunkchor Berlin singt, wieder einmal, fantastisch: expressiv und dabei zum Niederknien homogen. Fazit: Mit der richtigen Portion Distanz kann man die Neunte schon anhören, zumal wenn sie auf so hohem musikalischen Niveau aufgeführt wird wie hier.  

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