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Hellwacher Blick. Ein bisher unbekanntes Porträt Harry Graf Kesslers von Edvard Munch aus einer Privatsammlung, um 1904.

© Stiftung Brandenburger Tor

Harry Graf Kessler - die Ausstellung im Liebermann-Haus: Der Geist der Weimarer Zeit

Diplomat, Tagebuchschreiber, Verleger: Das Liebermann-Haus erinnert an Harry Graf Kessler - mit der Ausstellung "Flaneur durch die Moderne".

Hätte es den Begriff nicht vorher schon gegeben, für Harry Graf Kessler hätte er erfunden werden müssen, denn er verkörpert wie sonst keiner den Flaneur: jenes durch die Straßen und Passagen der Großstadt schlendernde, dandyhafte Wesen, das en passant seine Umgebung erfasst, ein pointiertes Urteil abgibt und schon wieder weiterstreift. Und doch ist Kessler weit mehr als ein gleitender Geist, ein distanzierter Beobachter. Der brillante Tagebuchschreiber und hellwache Zeitzeuge hat nicht nur die historischen Besonderheiten und gesellschaftlichen Verwerfungen in ihrer Unmittelbarkeit erkannt, er wollte auch wirken – als Diplomat, Museumsdirektor, Politiker. Das war ihm nicht vergönnt. Nur als Verleger der Cranachpresse hinterließ er ein veritables Werk, das nach seinen eigenen Maßstäben Gültigkeit besaß.

Dieses Urteil hat sich zum Glück verkehrt. Längst gilt Kessler als Tagebuchschreiber schlechthin mit seinem 57-bändigen Diarium, das er 1870 als Zwölfjähriger noch auf Englisch begann und bis zu seinem Tod 1937 führte. Darin besteht aus heutiger Sicht seine größte Tat. Er ist unser Fernglas in die damalige Zeit, seine Beobachtungen lassen sie zum Leben erwachen, ob er sich nun über die weiblich wirkende Physiognomie des Kaisers mokiert oder die Plaudereien beim Souper im Adlon wiedergibt. Dass noch mehr als ein meisterlicher Chronist in ihm steckt, will nun die Stiftung Brandenburger Tor mit einer Ausstellung im Liebermann-Haus beweisen. Kessler wird hier als großer Europäer gefeiert, als supranationaler Kulturmensch zelebriert.

Ihn könnte man sich zum Vorbild nehmen, so gebildet, so kommunikativ, so meinungsfest wie dieser Kosmopolit war, – ja, wäre er nicht so weit von uns entfernt. Greifbar wird er trotz aller technischen Anstrengungen nicht. Schwarzweiß-Aufnahmen huschen allenthalben über Wände, Hängetafeln und Gardinen: Kessler als Kind, Kessler als Rittmeister im Ersten Weltkrieg, Kessler als gealterter Mann mit immer schärfer werdender Nase und unverändert klarem Blick.

Der Kontrast zwischen Kesslers Tagebuchzeilen und heutigen Kommunikationsmitteln ist zu groß

Die Ausstellung versucht launig den Sprung in die Gegenwart und verstolpert sich dabei: eigene Seite auf Facebook, dazu ein Twitteraccount samt Hashtag. Spielereien, Werbegimmicks. Zwischen den in zwei Vitrinen aufgeschlagenen Tagebuchseiten, Kesslers hastigen Zeilen und den Kommunikationsmitteln der Gegenwart herrscht ein zu großer Kontrast.

Klar wäre Kessler heute der geniale Blogger gewesen, so schnell und gescheit wie er damals schon über seine Zeitgenossen schrieb. Trotz aller Weitsicht bleibt er jedoch ein Gewächs seiner Zeit, gerade das macht ihn interessant. Die aus 15 000 eng beschriebenen Seiten herausgefilterten Zitate, die in vier Soundstationen zu den Themen Krieg und Frieden, Eros der Kunst, Schönheit und Moderne hörbar sind, wirken zwar so manches Mal gespreizt, gereizt, aber immer auf der Suche nach dem Wesen hinter den Dingen, immer neugierig, obwohl die von Kessler geliebte Moderne mit Gauguin, van Gogh, den Neo-Impressionisten endete.

So gehört es zu den nicht unbedingt beabsichtigten Ergebnissen der ansonsten gelungenen Ausstellung von Christoph Stölzl, dass Harry Graf Kessler sich beständig entzieht. Überall bekannt, quecksilbrig immer unterwegs zwischen Paris, London, Berlin und Weimar konnte er nur so die selbst gestellte Aufgabe einer bewussten Zeitzeugenschaft bewältigen. Persönliches, Amouröses gar verrät Comte Kessler nicht, wie er sich auf einer eigens für den New York-Aufenthalt gedruckten Visitenkarte annoncierte. Dass von seiner Sammlung, den von Henry van de Velde gestalteten Einrichtungen seiner Wohnungen wenig blieb, hat er noch erlebt. Mit dem Reichstagsbrand im April 1933 setzte er sich nach Mallorca ab, lebte zuletzt verarmt in Frankreich, unterstützt von der Schwester. Sein sagenhaftes ererbtes Vermögen hatte er selber durchgebracht. Für die exquisiten Drucke seiner Cranach-Presse konnten dem Augenmenschen kein Grafiker, kein Bütten teuer genug sein.

Im Zentrum der Ausstellung: famose Leihgaben

Gezwungenermaßen windet sich die Ausstellung um die vielen Leerstellen herum. Fototapeten bilden die Wohnungen Kesslers ab, zwei verbliebene Essstühle, Maillols Statue „Baigneuse“ stehen davor. Die Gemälde, die Harry Graf Kessler während seiner Jahre als Direktor zwischen 1903 und 1906 für das Großherzogliche Museum in Weimar erwarb, erscheinen nur als hinterleuchtete Reproduktionen. Doch was bleibt, ist famos genug. Im Zentrum der Leihgaben aus Paris, Genf, Weimar, vor allem Marbach steht „La Méditerranée“ von Maillol, ein gewaltiger Bronzeakt, gleich dahinter die vergötterte, bildschöne Mutter, die Comtesse Kessler, porträtiert vom damals teuersten Maler, Alexandre Cabanel. Natürlich gab die Nationalgalerie ihr berühmtes Kessler-Porträt von Munch, schließlich sitzt ihr einstiger Direktor Peter Klaus Schuster im Vorstand der Stiftung Brandenburger Tor. Dazu kommt ein zweites, bisher unbekanntes Porträt von Munch.

Ein Kabinett zeigt letzte Habseligkeiten: einen Koffer, einen Kandelaber, eine Garnitur Silberbesteck und eine Kaffeemaschine. Eine Hausangestellte nahm sie damals noch mit.

"Harry Graf Kessler - Flaneur durch die Moderne", Liebermann-Haus, Pariser Platz 7, bis 21.8., Mo/Mi/Do/Fr 10-18 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Katalog (Nicolai Verlag) 24,95 €.

Lesen Sie dazu auch das Interview von Bernhard Schulz mit dem Kurator der Ausstellung Christoph Stölzl.

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