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Der liebevolle Blick: Filmemacher Wim Wenders wird 80 Jahre alt
„Paris, Texas“ und „Der Himmel über Berlin“ machten ihn weltberühmt. Doch auch in fortgeschrittenem Alter ist der Kinoregisseur, Fotograf und Reisende unermüdlich am Werk – aktuell im Rahmen einer großen Schau in der Bundeskunsthalle Bonn.
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Der „King of the Road“, wie ihn Roger Miller in seinem gleichnamigen Countryhit besingt, ist eigentlich ein Bettelmann. Zwischen Trailer und Absteige vagabundiert er von Job zu Job, springt nachts auf Güterzüge, um vom Fleck zu kommen, und raucht aufgelesene Zigarrenstummel, weil er sich keine Zigaretten leisten kann. In seiner Vogelfreiheit ist er hoffnungslos unfrei.
Für Bruno aber, den schweigsamen, von Rüdiger Vogler gespielten Kinotechniker aus Wim Wenders‘ Film „Im Lauf der Zeit“ (1976), liefert Millers Song bei allen Einsamkeitsanwandlungen eine willkommene Hymne. In dem umgebauten MAN-Möbelwagen, mit dem er durch die Lande zieht, ist er der ungekrönte Souverän seines bescheidenen Lebens.
Der ebenso schweigsame, von Hanns Zischler gespielte Robert, der ihn auf seinen Reisen durch das deutsche Zonenrandgebiet eine Weile begleitet, ist die verlorenere Seele. Ein halbherziger, Kamikaze genannter Selbstmörder, der sich unter akuten Trennungsschmerzen mit seinem VW Käfer in die Elbe gestürzt hat, um den Fluten mit einem neuen Leben zu entsteigen. Zwei einander so nahe wie fremde „Kings of the Road“, die der englische Filmtitel im Doppel auch als solche bezeichnet.
Ob das indische Goethe-Institut Wim Wenders einen Gefallen tat, indem es die Metapher Anfang des Jahres noch einmal aufwärmte und dem Regisseur im Rahmen einer Retrospektive nach dem Motto „Es kann nur einen geben“ den Titel eines „King of the Road“ verlieh, ist dennoch eine zweifelhafte Angelegenheit. Ja, die Berliner Produktionsfirma dieses repräsentativsten deutschen Filmkünstlers heißt seit einem halben Jahrhundert Road Movies. Und ja, er hat die Dimensionen seiner Kinoodysseen lange Zeit so gesteigert, dass er in „Bis ans Ende der Welt“ (1991) über sämtliche Kontinente jagte.

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Vom erzählerischen Gestus her aber ist er alles andere als ein expansionswütiger Herrscher. Filmen heißt für Wenders bis heute, die Einbildungskraft offenzuhalten – nicht, sich Stoffe gewaltsam zu unterwerfen. Von Beginn an schöpfte er aus einem „sense of place“, der Landschaften und städtische Szenerien zum Ausgangspunkt seiner Geschichten machte.
Für seine Suchbewegungen ist kein Gebiet ist zu groß oder zu klein, um darin nicht die je eigenen Fluchtlinien zu erkunden. Schon mit der Trias seiner Roadmovies, die 1974 mit „Alice in den Städten“ im Ruhrgebiet begann, mit „Falsche Bewegung“ (nach dem Goethes „Wilhelm Meister“ frei variierenden Drehbuch seines Freundes Peter Handke) ihre Fortsetzung im Rheinischen fand und mit „Im Lauf der Zeit“ die Grenzen des geteilten Deutschland zwischen dem Wendland und Oberfranken erkundete, rüttelte er an der Enge der alten Bundesrepublik und trug in das schon zu Mauerzeiten zersiedelte Land eine ungeahnte Weite hinein.
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Amerika war nicht zufällig das mythische Land, auf das er seine Unendlichkeitssehnsucht projizierte. Die statuarische Macht von John Fords Western, allen voran den „Searchers“, hatten sich in sein romantisches Gemüt eingesenkt. Zu dessen zutiefst deutscher Herkunft bekennt er sich ausführlich in den autobiografischen Essays seines neuen Buchs „Wesentliches“, das tatsächlich die entscheidenden Züge seiner Entwicklung zusammenfasst.
Amerika wurde aber auch zu dem Land, das ihn enttäuschte. Seine Idee von Reisen war weniger von dem fieberhaften Unterwegssein getragen, das Jack Kerouac in seinem Roman „On the Road“ als Nachfolger der Tramps und Hobos feierte, als von jenem spirituellen Exerzitium, dem sich der Zenwandermönch Matsuo Basho unterzog, als er Ende des 17. Jahrhunderts „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“ in den japanischen Norden aufbrach und seinen gleichnamigen Bericht verfasste.
In einer Art Prosagedicht, das seinen Kritikenband „Emotion Pictures“ (1986) beschließt, erklärt Wenders auf 30 Seiten, wie er seinen amerikanischen Traum austräumte. In den Bildern, die die USA von sich entwarfen, konnte er nicht die geringste Übereinkunft mit der Wirklichkeit entdecken. Er stieß auf nichts als Reklame, Propaganda und „abgewetztes Sehen“.
Umgekehrt konnten die Amerikaner seiner Vision von einem entfremdeten Amerika, wie sie „Paris, Texas“ (1984) prägt, nichts abgewinnen. Für den Verleih sollte er die Irrungen und Wirrungen seines Protagonisten Travis mit einem optimistischen Ende versehen. Er weigerte sich, und der Film, sonst ein Welterfolg, blieb in den USA ein Randphänomen.
Wenders hat oft erzählt, wie er als junger Filmemacher erst den Einfluss von John Cassavetes (in „Summer in the City“) und Alfred Hitchcock (in „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“) ablegen musste, bevor er mit „Alice in den Städten“ zu einem eigenen Ton fand. Es ist nicht so, dass das Amerika eines John Ford heute aus seinem Imaginationshaushalt verschwunden wäre. Aber er hatte nach bitteren Produktionsjahren in Amerika das Glück, im Kino des Japaners Yasujiro Ozu eine kulturell entgegengesetzte, aufs Äußerste reduzierte Form von Wahrhaftigkeit zu finden – und eine andere Art der Stille.
1985 wurde daraus mit „Tokyo-Ga“ ein schöner Essayfilm, 2023 drehte er mit „Perfect Days“ über den wundersam erfüllten Alltag des Tokioter Toilettenreinigers Hirayama fast so etwas wie eine Ozu-Variation. Die Weltläufigkeit des Dauerreisenden, der mit dem „Himmel über Berlin“ (1987) seiner Wahlheimat eine mythologische Überschreibung schenkte, die das Bild der Stadt als poetischer Abenteuerspielplatz voller unsichtbarer Schutzengel weit über die Vorwendezeit hinaus bestimmte, hat auch einen privaten Kontrapunkt gefunden: Wenders‘ Hauptwohnsitz liegt seit einer Weile in der Uckermark.
In seinen Filmen hat sich Wenders immer wieder zwischen Himmel und Erde eingerichtet. Die Überwindung der Schwerkraft, die er im „Himmel über Berlin“ mit langen Kameraflügen inszenierte, hat er auf gewisse Weise auch in seinen Dokumentarfilmen gesucht.
Wie das Tanztheater Wuppertal nach einer Choreografie seiner verstorbenen Chefin Pina Bausch in einem „Sacre du Printemps“ gegen den Torf unter den Füßen ankämpft. Wie der Maler Anselm Kiefer an seinen Riesenformaten mit Hilfe einer Hebebühne arbeitet. Oder wie „Soul of a Man“ aus einer Voyager-Kapsel im Weltraum heraus die irdische Mühsal des Bluessängers Blind Willie Johnson schildert. Das sind auf Anhieb kaum erkennbare Motive, die bei der spektakulären Schau, die ihm die Bundeskunsthalle Bonn mit „W.I.M. – Wenders in Motion“ derzeit widmet, auch keine Rolle spielen. Dafür weist sie neben zahlreichen fotografischen Arbeiten mit nie gesehenen Zeichnungen und Gemälden auf ein Talent von Wenders hin, das durch den Film verdrängt wurde.
Eric Friedlers und Andreas Freges derzeit in der ARD-Mediathek zu sehende Kinodoku „Desperado“ vermittelt einen guten Eindruck von der Spannweite dieser Welt – wobei die ungekürzte Fernsehfassung „Von Filmen und Träumen“ (2020) durch die Vielzahl der Belege, Zeugnisse und Anekdoten noch um einiges lohnenswerter ist.
Für den Anfang genügt aber vielleicht schon das Wesentlichste in seinem Buch „Wesentliches“: die überarbeitete Dankesrede zur Verleihung eines Ehrendoktors der theologischen Fakultät Fribourg. „Der liebevolle Blick“ fasst aus der Perspektive eines Gläubigen auf wenigen Seiten zusammen, was der unermüdliche Wim Wenders, der am 14. August, 80 Jahre alt wird, unter einem „heilsamen Sehen“ versteht.
„Wenn wir uns doch bloß nicht so hilflos und dumm daran gewöhnen würden, dass uns immer wieder jedes Staunen abhandenkommt, über das Sehen, über das Licht, über unsere Fähigkeit, die Welt vor unseren Augen entstehen zu sehen, aus der Unendlichkeit des Alls bis auf unsere Zimmerwände“, heißt es da. „Oder noch mehr: bis auf das Gesicht des anderen vor uns. Der ,liebevolle Blick’, von dem ich spreche, ist auch immer wieder ein staunender, und damit gelegentlich sogar ,wunderfähig’!“ An diesem Sehen teilzuhaben - „acht Milliarden Augenpaare und die Gehirne dahinter’“ ist eine gleichermaßen individuelle wie kollektive Aufgabe. Mit den Filmen von Wim Wenders wird man ihr ein Stück gerechter.
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