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Der Politthriller „Hysteria“ im Kino: Ein brennender Koran entfacht die Wut
In Mehmet Akif Büyükatalays klugem Thriller „Hysteria“ verbinden sich Fremdenangst und Gutmenschenattitüde zum explosiven Gemisch. Die Hauptrolle spielt der „European Shooting Star“.
Stand:
Gut gemeinter geht es gar nicht. Regisseur Yigit (Serkan Kaya) will mittels eines Spielfilms an den rechtsextremen Brandanschlag von Solingen 1993 erinnern. Als Deutschtürke gehört er selbst zu den Leuten, die bei Pass- oder Polizeikontrollen einmal öfter angehalten werden, wie er sagt.
Und weil niemand Migranten so authentisch darstellen kann wie Migranten, stammen der Fahrer und die Komparsen der Filmproduktion aus einem „Geflüchtetenheim“, wie Produzentin Lilith (Nicolette Krebitz) politisch korrekt angibt.
Dass der Film-im-Film-Dreh in „Hysteria“ trotzdem schon in den ersten Minuten aus dem Ruder läuft, liegt entweder an diesem Authentizitätswahn des Regisseurs oder einfach nur an einer Unachtsamkeit der Requisite.
In den verkohlten Kulissen des Solinger Wohnzimmers, das das Filmteam in einer verlassenen Kölner Fabrikhalle nachgebaut hat, entdecken die Komparsen, die Aufräumhelfer spielen, ein von den Flammen beschädigtes Buch. Nicht irgendein Buch. „Sie haben einen Koran verbrannt“, ruft Majid (Nazmi Kirik), der Fahrer, entsetzt.
Komparse Mustafa (Aziz Çapkurt), der eigentlich Theaterregisseur ist und sich als Atheist bezeichnet, will ihn beruhigen: „Feuer frisst eben alles auf“. Aber die Empörung über die Respektlosigkeit, einen echten Koran am Set verheizt zu haben, wächst.
Spiel des Verschweigens, Täuschens und Beschuldigens
Der Kölner Filmemacher und Produzent Mehmet Akif Büyükatalay hat sich mit dem Spielfilmdebüt „Oray“, einem Religionsdrama, das 2019 – ebenso wie dieses Jahr „Hysteria“– bei der Berlinale uraufgeführt wurde, als differenzierte Stimme des postmigrantischen Kinos etabliert.
Mit dem subtilen Thriller „Hysteria“ verknüpft er nun gekonnt Suspense-Motive wie das Rätselraten um einen geheimnisvollen Einbrecher mit dem Diskursfeuer um Koranverbrennungen, Migranten und Ressentiments. Themen, die neben der hell lodernen Empörung, wie sie die in den Film integrierten Nachrichtenbilder muslimischer Proteste transportieren, dunkle Ängste triggern, von denen die vielen, oft von bedrohlichen Streichern untermalten Nachtaufnahmen in „Hysteria“ sprechen.
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Zentralgestirn der Story ist Elif, die Set-Praktikantin. Gespielt wird sie von Devrim Lingnau, die bei Netflix als Kaiserin Sisi zu sehen ist und im Februar auf der Berlinale zum „European Shooting Star“ gekürt wurde.
Auch Elif ist Deutschtürkin, wie übrigens auch Lingnau, was Elif – womöglich der Karrierechancen wegen – verbirgt und erst preisgibt, als es um einen besseren Draht zu Majid, Mustafa und dem netten Marokkaner Said (Mehdi Meskar) geht.
Elif ist diejenige, die nach dem Dreh spätabends die Komparsen ins Heim zurückfährt. Und sie bringt auch das Filmmaterial in die Wohnung von Yigit und Lilith, bei denen sie – beim Arthouse-Film mit Haltung sind schließlich alle eine Familie – auch ein paar Tage wohnt. Dumm nur, dass ihr nicht nur der Wohnungsschlüssel abhandenkommt, sondern auch noch das Filmmaterial verschwindet.

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Ein Spiel des Verschweigens, Täuschens, Ausspähens und Beschuldigens beginnt, in dem weder Elif noch das ach so liberale, wohlsituierte Filmemacherpaar eine gute Figur machen. Nicht lange, und die Polizei erscheint im Flüchtlingsheim, um bei den Komparsen in Sachen Einbruch in die Regisseurswohnung zu ermitteln. Denn wer auch immer hier was am Stecken haben mag, die Geflüchteten stehen zuverlässig am Ende der Nahrungs- und am Anfang der Verdächtigungskette.

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Zu den besten Szenen in „Hysteria“ gehören die verbalen Schlagabtausche zwischen Mustafa, Said, Majid und Yigit. Denn selbstverständlich verwehrt sich das aufgeklärte Filmemacherpaar Yigit und Lilith niemals einer wohlmeinenden Diskussion.
„Du hast einen türkischen Namen, aber du verstehst die Leute nicht, von denen du in deinen Filmen erzählst“, wirft Mustafa dem Regisseur vor und beschuldigt ihn, einen „Opferkult“-Film zu produzieren. Der in seinen religiösen Gefühlen verletzte Majid, handfester unterwegs als Künstler Mustafa, wird in einem anderen Dialog deutlicher. „Yigit ist ein Nazi, er hat einen Koran verbrannt“.
Und dann ist da noch die betont locker und fürsorglich auftretende, knallharte Produzentin Lilith, die ihren Lebensgefährten Yigit mit sanfter Stimme mahnt: „Glaubst du wirklich, du bist aus dem Holz geschnitzt, einen verbrannten Koran als künstlerische Freiheit zu verkaufen?“ Wenn er je wieder Fördergelder bekommen wolle, solle er froh sein, dass das Filmmaterial futsch sei. Haben die beiden es womöglich selbst verschwinden lassen?
„Hysteria“ ist zu gut gebaut und seine Charaktere sind zu differenziert angelegt, um eine einfache Auflösung anzubieten. Das Dickicht der Halbwahrheiten, Egoismen, verdeckten und offenen Aggressionen bleibt so spannungsreich, dass ein Funke genügt, um in eine Katastrophe hineinzutaumeln.
In diesem Thriller birgt selbst die Schlussszene gesellschaftliche Symbolkraft.
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