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Einer der Sehnsuchtsorte für Deutsche. In Thessaloniki findet jedes Jahr die griechische Buchmesse statt.

© Getty Images/EyeEm

Deutsche Literatur in Thessaloniki: Die Abstiegsängste der Mittelschicht – und ein verdrängter Krieg

Die deutschsprachige Literatur feiert bei der Buchmesse in Thessaloniki ihren Gastauftritt. Er zeigt: Zwischen beiden Ländern gibt es viel aufzuarbeiten.

Dieses Jahr ist in Griechenland ein Jahr des Gedenkens. Das Land ist 40 Jahre in der EU, es gibt den 80. Jahrestag der deutschen Besatzung Nordgriechenlands, und die griechische Revolution fand vor genau 200 Jahren statt. Auch aus diesem Grund eröffnete die griechische Präsidentin Katerina Sakellaropoulou die Buchmesse in Thessaloniki, die vergangenes Jahr wegen der Pandemie ausgefallen war.

Sakellaropoulou würdigte denn auch den nachgeholten Gastauftritt der deutschsprachigen Literatur. „Die Deutschen haben uns große Klassiker geschenkt“, sagte sie bei der Festveranstaltung. Aber wie ist es um die Rezeption der aktuellen deutschen Literatur in Griechenland bestellt? Das Interesse am deutschen Gastauftritt, organisiert vom Goethe Institut und der Frankfurter Buchmesse, war bemerkenswert hoch. Obwohl Griechenland von der Bundesregierung inzwischen wieder als Hochrisikogebiet eingestuft ist, kamen deutsche Verlage und Autoren wie geplant nach Thessaloniki, einige wurden digital zugeschaltet.

Judith Schalansky stellte ihre preisgekrönten Bücher vor („Verzeichnis einiger Verluste“) und sprach über Buchdesign; Stefanie Sargnagel sorgte mit einer Lesung aus ihren gefeierten trashigen Jugenderinnerungen „Dicht“ für Wiener Schmäh. Und Julia Friedrichs diskutierte ihren Bestseller „Working Class“ über den Abstieg der Mittelschicht in Deutschland mit dem griechischen Publizisten Panagis Panagiotopoulos, der eine ähnliche Diagnose für Griechenland hat: Hier wie dort ist eine nachhaltige ökonomische, durch die Pandemie noch verstärkte Verunsicherung zu spüren.

Auch die Debatten über die europäische Flüchtlingspolitik ähneln sich in beiden Ländern. Darauf wies Andreas Kossert bei der Vorstellung seines Buches „Flucht, eine Menschheitsgeschichte“ hin. Beide Gesellschaften, die 2015 mit der so genannten Flüchtlingskrise konfrontiert wurden, sind selbst historisch von Fluchterfahrungen geprägt: Griechenland durch die 1,2 Millionen Griechen die nach dem Ersten Weltkrieg aus Kleinasien vertreiben wurden, Deutschland durch 14 Millionen Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten nach 1945.

Doch die Erinnerung an das Leid ist längst verklärt oder verdrängt und führt auf beiden Seiten selten zu einer empathischen Perspektive mit den Fluchterfahrungen von heute. Die anfängliche Hilfsbereitschaft schlug in Deutschland wie Griechenland in Populismus oder bestenfalls Gleichgültigkeit um. Die griechische Politik fühlt sich alleingelassen, bisweilen gemaßregelt von der EU und nicht zuletzt von Deutschland.

Die verdrängte Geschichte deutscher Gewaltherrschaft

Der letzte Woche veröffentlichte Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen hat sich nicht nur im Kapitel „Europäische Flüchtlingspolitik“ vorgenommen, das zu verändern. Im Abschnitt „Erinnerungskultur“ wird direkt auf Griechenland verwiesen: Aktuelle Debatten im Land zeigten, dass „die gemeinsame Aufarbeitung nicht abgeschlossen ist.“ Daraus abgeleitet wird eine besondere Verantwortung, dies zu ändern. Veranstaltungen wie die Buchmesse in Thessaloniki sind Orte, um daran zu arbeiten.

Das geschah hier durch den Bezug auf die Ausstellung „Gespaltene Erinnerung“ und die Vorstellung der Katalogpublikation, die die für Griechenland wie Deutschland schicksalhaften Jahre 1940-1950 umfassend beleuchtet.

Die Ausstellung, derzeit zu sehen in Köln, wurde bereits 2016 in Kölns Partnerstadt Thessaloniki gezeigt. Sie zeigt das ganze Grauen der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland. Die Auslöschung griechischer Dörfer und die Ermordung fast der 50 000 überwiegend sephardischen Juden aus Thessaloniki hatten nachhaltige Folgen für Griechenland. Der Krieg endete nämlich nicht, sondern mündete in einen Bürgerkrieg. In Deutschland sind die griechischen Kriegstraumata kaum bekannt. Viele Griechen sind verbittert, weil sich Deutschland, das sich gern als Erinnerungsweltmeister darstellt, beharrlich weigert, über eine angemessene Entschädigung der materiellen Folgen der Besatzung zu verhandeln.

Als der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Ausstellung 2016 eröffnete, war der Tiefpunkt des deutsch-griechischen Verhältnisses erreicht. In den harten Krisenzeiten für Griechenland wurden deutsche Minister auf Demo-Plakaten schon mal in Naziuniform dargestellt. In Deutschland grassierten üble Klischees von den „faulen Griechen“.

Wie konnte es soweit kommen, ist doch Griechenland ein erklärtes Lieblingsland, ein Sehnsuchtsort der Deutschen? Zumal fast eine halbe Million Menschen mit griechischer Migrationsgeschichte in Deutschland leben. Griechische „Gastarbeiter“ schufteten jahrzehntelang im Dienste des deutschen Wirtschaftswunders. Viel Aufmerksamkeit oder gar Dank erfuhren sie nie. Die verdrängte Geschichte deutscher Gewaltherrschaft bleibt die größte Leerstelle im gegenseitigen Verhältnis. Dass diese Aufarbeitung „nicht abgeschlossen“ sei, wie es der Koalitionsvertrag formuliert, darf getrost als Understatement gelten – sie muss erst noch richtig beginnen.

René Wildangel

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