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In Ian Chengs Computerspiel-Trilogie "Emissaries" sind Mitglieder einer frühzeitlichen Gemeinschaft die Protagonisten.

© Julia Stoschek Foundation

Videokunst in der Julia Stoschek Collection: Die App für das Hirn

Der New Yorker Künstler Ian Cheng untersucht mit seinem Computerspiel „Emissaries“, ob es ein Bewusstsein ohne den menschlichen Körper gibt.

Das Mitmachen ist in der zeitgenössischen Kunst momentan sehr angesagt. Partizipation ist alles. Beim New Yorker Künstler Ian Cheng ist das anders. Bei ihm kann der Betrachter gar nichts tun – außer zusehen. Chengs Trilogie „Emissaries“ in der auf Videokunst spezialisierten Julia Stoschek Collection besteht aus drei Computerspiel-Episoden. Allerdings darf der Betrachter weder eine 3-D-Brille aufsetzen noch einen Joystick umklammern. Das Spiel spielt sich selbst.

In der ersten Episode sieht das etwa so aus: Eine frühzeitliche Gemeinschaft lebt in der Nähe eines Vulkans. Die Landschaft ist graublau, felsig. Sehr unwirtlich. Es zischt und dampft. Menschen gehen umher und tragen Stöcke. Ein Schamane mit Umhang bildet das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Die Hauptfigur, die Emissary, ist in dieser Episode ein Mädchen. Sie trägt einen roten Mantel und ist sichtlich aktiver als die anderen. Der Betrachter versteht kaum, was vorgeht.

Cheng, der bis 2006 Kognitionswissenschaft und Kunst in Berkley studierte, zeigt hier eine Live-Simulation, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Ähnliche Programme werden auch bei der Simulation von Wahlergebnissen oder der Abschätzung von Klimawandelfolgen eingesetzt. Der Künstler programmiert seine Charaktere als bedürfnisorientierte künstliche Intelligenzen. Sie haben Durst, sie wollen spielen oder kommunizieren. Da sie unterschiedliche Prioritäten haben, ergeben sich unterschiedliche Persönlichkeiten. Was im weiten Feld der künstlichen Intelligenz noch sehr einfach gehalten ist, ließ Cheng bereits von mehreren Profis programmieren.

Das Ausstellungs-Booklet verrät: „Young Ancient“ hat einen vulkanischen Geröllbrocken an den Kopf bekommen und dadurch die Verbindung zu den Stimmen verloren, die das Tun der Bevölkerung bisher bestimmten. Sie muss nun selbst entscheiden. Ihr Ziel: ihre Gemeinde aus der Gefahrenzone herausführen.

„Der Emissary hat ein Skript im Kopf und versucht, einer Geschichte zu folgen. Alle anderen Figuren kümmern sich nicht um die Geschichte. Sie folgen einfach ihren Bedürfnissen“, erklärt der 1984 in Los Angeles geborene Cheng am Tag der Ausstellungseröffnung in Berlin. Erst durch die Interaktion der Charaktere ergibt sich eine Geschichte. Man nimmt wahr, dass die keiner Narration folgenden Charaktere für den Emissary zum Störfaktor werden. Neue Elemente werden per Zufall hinzugefügt. So kann aus einem einfachen Repertoire an Handlungen ein komplexes Chaos entstehen.

„Es ist wie ein Wettbewerb, in dem man zusieht, wer gewinnt. Das ist der Spaß dabei“, sagt Cheng. Ein bisschen ist es wie in der Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Ein Mann erlebt immer wieder denselben Tag, der jedes Mal anders abläuft. Auch Chengs „Emissaries“-Serie läuft immer wieder anders ab, jedes Mal, wenn sie eingeschaltet wird.

Dabei braucht man diese Videos nicht konzentriert zu verfolgen wie einen Film. „Es ist, als würde man Tiere im Zoo beobachten“, sagt Cheng. „Ein Eichhörnchen im Wald kann man den ganzen Tag beobachten, wenn man will. Es kommt nicht darauf an, ob man fünf Sekunden oder fünf Stunden zusieht. Die Arbeiten vertragen jedes Maß an Aufmerksamkeit.“

Dennoch steckt viel dahinter. Cheng simuliert in den drei Filmen verschiedene Stadien der kognitiven Entwicklung. Im ersten Film wird die Gemeinde noch von unsichtbaren Stimmen und Geistern geleitet, während das Mädchen „Young Ancient“ bereits versucht, ein paar Schritte vorauszuplanen. Es hat ein narratives Bewusstsein entwickelt, kennt Vergangenheit und Zukunft. Im zweiten Film existieren noch Reste von original-menschlicher Materie, die in eine Künstliche Intelligenz eingespeist werden, um Daten über menschliche Gefühle zu sammeln. Im dritten Teil haben wir es mit einer „biosynthetischen Population mit Spuren von Säugetier-DNS“ zu tun. Die größte Gefahr sind unberechenbare Mutationen.

Cheng bezieht sich in seinen Arbeiten auf die gegenwärtig wieder viel diskutierten Theorien des US-Psychologen Julian Jaynes. In seinem 1976 veröffentlichten Buch „The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind“ (Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche) behauptet er, dass die Urvölker kein Bewusstsein hatten. Sie machten keine Pläne, dachten nicht an Vergangenes und hatten kein Verständnis von Zeit. Sie folgten stoisch ihren inneren Stimmen, so die These. Durch Umweltkatastrophen und Migration verstummten die Götter, und es kam zur Ausbildung eines narrativen Bewusstseins. „Wie eine neue App für das Hirn“, so Cheng.

Cheng, der bereits Einzelausstellungen in Museen in New York, London oder Zürich hatte, nutzt in seiner Kunst das Verhalten von Menschen als gestaltendes Element. Dadurch will er das nicht-menschliche Verhalten begreifen. Gibt es Bewusstsein ohne den menschlichen Körper, fragt er. Beim Betrachten seiner Werke gibt es also doch etwas zu tun: nachdenken und versuchen, zu verstehen.

Julia Stoschek Collection, Leipziger Str. 60, bis 1.7.; Sa+So 12–18 Uhr

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