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100. Todestag von Franziska zu Reventlow: Die erste Frau von heute
Avantgardistin, Freigeist – und Skeptikerin der Frauenbewegung: eine Erinnerung an die unerschrockene Schriftstellerin Franziska zu Reventlow.
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Man hat in ihr die Urgroßmutter der sexuellen Revolution gesehen, aber vielleicht war sie viel mehr, die erste Frau von heute: Avantgardistin der Alleinerziehenden, Vorläuferin des intellektuellen Prekariats der Gegenwart, dabei eine der modernsten Schriftstellerinnen um 1900, knapp, sarkastisch, komisch. Im Vergleich zu ihr schrieben die meisten Männer der Zeit wie sentimental gewordene Gouvernanten.
Unfähig, belanglos zu formulieren, widerlegte Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Comtesse zu Reventlow aus Husum an der Nordsee, das schwarze Schaf ihrer Familie, mit jedem Satz die männliche Grundüberzeugung, dass Frauen kein Urteilsvermögen besitzen, woran keine Frauenbewegung je etwas ändern würde. Und Ironie begriffen sie auch nicht.
Dass die Frauenbewegung keinen Spaß versteht, befürchtete allerdings auch Reventlow selbst. Jedes Mal, wenn sie ihre Geschlechtsgenossinnen „in geteiltem Loden-Rock und gestärkter weißer Weste auf ein Katheder steigen und mit einer Stimme wie eine Bass-Klarinette über ,das Woib’ reden“ hörte, hatte sie Schwierigkeiten, nicht zu lachen.
Schlüsselroman über die Münchner Boheme
Das „Woib“, ganz richtig, denn der Schauplatz ihres Lebens wird München, wie das ihres vormaligen Mit-Lübeckers Thomas Mann. Dieser besitzt die Unverfrorenheit, sie „als unverheiratete junge Mutter von adeliger Herkunft“ zu beschreiben, „die von ihrer Familie verstoßen, aber ohne alle geistigen Ansprüche war“. Ein starkes Stück, immerhin veröffentlichen sie im gleichen Verlag, nur dass Thomas Mann in München als Eleve einer Feuerversicherung angefangen hat, sie aber gleich als Autorin. Mann versucht in der Erzählung „Beim Propheten“, die Schwabinger Geistesszene um 1900 zu porträtieren, aber erst ihr wird das gelingen, in „Herrn Dames Aufzeichnungen“ (1913), dem Schlüsselroman über die Münchner Boheme.
Sich als Mittelpunkt eines durch und durch ironischen Romans wiederzufinden – oder besser: als dessen zentrale Leerstelle –, das hat Stefan George, einen anderen Jubilar dieser Tage, gewiss nicht amüsiert, obwohl er etwas anderes behauptete. Er ertrug keine anderen Töne als die hohen, doch immerhin kam er bei Reventlow vergleichsweise gut weg.
Nie woanders als in der eigenen Mitte
Und natürlich war Stefan George ein Mann von großer Einsicht: „Wer nicht in der Mitte steht, gelangt niemals hin“, hat er gesagt. Es ist das Verständnis solcher Sätze, an denen sich die Geister scheiden. Es ist das Gegenteil eines sozialdemokratischen Satzes. Auch für die Frauenbewegung wäre das Bonmot vermutlich purer semantischer Nonsens, obwohl es ein zutiefst emanzipatorischer Satz ist. Fanny zu Reventlow hätte ihn bejaht, er entsprach ihrer eigenen Erfahrung. Auch sie hat sich von Anfang an nie woanders aufgehalten als in ihrer eigenen Mitte.
Von außen ist das nicht ohne Weiteres erkennbar. Denn die eigene Mitte besitzt manchmal überwältigende Ähnlichkeit mit dem Desaster schlechthin.
Als ihr vorläufig letzter Geliebter 1907 vor den Konsequenzen einer Scheinheirat nach Amerika flieht – er hat einer werdenden Mutter seinen Namen verkauft und soll plötzlich Kindergeld zahlen –, übernimmt sie sein zurückgelassenes Glasmalgeschäft. Der polnische Baron Bohdan von Suchocki hat sich auf das Fälschen altdeutscher Gläser spezialisiert. Selten hat sie mehr gearbeitet als in diesem Münchner Frühjahr 1908.
„Moral insanity wird sich erweisen lassen“
Und dann steht die bekennende Atheistin gemeinsam mit ihrem Kind hinter ihrem Verkaufsstand bei den Oberammergauer Passionsspielen. Es regnet tagein, tagaus. Die reichen Amerikaner, denen ihre pekuniären Haupthoffnungen gelten, sehen ihre Gläser, bemalt mit Szenen aus dem Leben Jesu, gar nicht erst an: zu billig. Denkt die Mittellose an den Kredit, den sie aufgenommen hatte?
Die Einzige, die von ihrem Misserfolg überrascht war, jedes Mal neu, war sie selbst. Ihre Familie dagegen hat immer gewusst, dass es ein schlimmes Ende mit ihr nehmen würde, weshalb sie vorsorglich entmündigt werden sollte. „Moral insanity wird sich erweisen lassen“, droht ihr Bruder, „das Material liegt schon bereit.“ Da ist sie, mit 20 in einem Pfarrhaus bei Flensburg unter Kuratel gestellt, gerade vom Ort ihrer Verbannung geflohen.
Was Mädchenerziehung, gerade die Erziehung „höherer Töchter“ damals bedeutete, wird vielleicht nirgends drastischer und unmittelbarer erfahrbar als an der Geschichte von Fanny zu Reventlow. Ihr Leben sei eins „von denen, die erzählt werden müssen“, schreibt Rainer Maria Rilke 1903 zum Erscheinen ihres autobiografischen Romans „Ellen Olestjerne“. Schreiben heilt! Sie hat dieses Buch auf beharrlich-sanften Druck von Ludwig Klages begonnen. Für den späteren Autor von „Der Geist als Widersacher der Seele“, der mit „Mensch und Erde“ bereits das erste ökologische Manifest verfasst hat, wird Reventlow zur Leidenschaft seines Lebens.
Emanzipation nicht nur durch die Frauenbewegung
Dass man für das, was man wird, einen Leidenspreis zahlt, gehört zu ihren tiefsten Überzeugungen. Sie misstraut jenen, die sich über Vereine, über Bewegungen emanzipieren. Fast alle ambitionierten Münchnerinnen, die einen Stift halten konnten, treten in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts der „Gesellschaft zur Förderung der geistigen Interessen der Frau“ bei. Wahrscheinlich ist sie die einzige, der allein schon der Name kurios vorkommt: Gehört eine Existenzform, für die man solche Vereine gründen muss, nicht zu den aussichtslosen Fällen?
Nietzsche ist der große geistige Erwecker der Jugend Europas um 1900, doch bleiben seine Anhänger immer Einzelne, Verächter der Massen, Verächter der „Bewegungen“. Dass der Weg zur Emanzipation der Frau nicht allein über die Frauenbewegung geführt hat, sondern ebenso über ihre großen Skeptikerinnen wie Franziska zu Reventlow, Lou Andreas-Salomé oder Ricarda Huch wird leicht übersehen.
Freier atmen in Reventlows literarischer Gegenwart

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Die Nachfahrinnen der „Bewegungsweiber“ (Franziska zu Reventlow) hätten ihre bösesten Befürchtungen bestätigt. Nur wer nicht weiß, wer er ist, hat es nötig, Sternchen und Striche in den lebendigen Organismus der Sprache einzufügen, die jeden Text von vornherein zu einem bürokratischen, zu einem Verwaltungstext machen. Kein Reventlow-Satz vertrüge sich mit einem „*innen“ darin, denn solch versehrte Sätze schwingen nicht mehr. Die als Triumph gefeierten Implantate der Sprache nehmen ihr zugleich die widerständlerische Kraft, die Autonomie. Der unfleißige Glasmaler Bohdan von Suchocki fand das umwerfend-schöne Wort „Metapfisik auf Rädern“ für alle prätentiösen Theorien, die dem Menschen seine Urteilskraft rauben wollen. Franziska zu Reventlow gebraucht es mit Genuss.
Was ist der Adel? Nicht primär ein von und zu. Sondern zuerst und zuletzt eine Geste der Distanz. Sie gehört auch zum Spiel der Geschlechter. Franziska zu Reventlow fand es zeitlebens verantwortungslos, an Männern, die ihr gefielen, vorüberzugehen, aber nie geschah etwas gegen ihren Willen. Und nie gingt sie mit ihrer Not hausieren.
Not ist durchaus das richtige Wort für ganze Phasen ihres Lebens. Nach dem Oberammergau-Desaster mietet sie im Münchner Englischen Garten ein Boot, rudert in die Mitte des Klein-Hesseloher Sees und will die unverkäufliche Glasware gerade in einem riesigen Paket versenken, als ein Parkwächter ihr zuruft, das Versenken von Gegenständen im See sei bei hoher Strafe verboten. So hat es der Anarchist Erich Mühsam überliefert. Mühsam, dem sie auch den entscheidenden Hinweis ihrer finanziellen Grundsanierung verdankt: Sie würde in die Schweiz gehen und dem amerika-flüchtigen Bohdan von Suchocki beweisen, was eine professionelle Scheinheirat ist.
Der Schweiz verdankt Reventlow viel
In Ascona lebt ein enterbter baltischer Baron, leider Alkoholiker. Wenn er sich aber verheirate, und zwar standesgemäß, würde ihn der Vater wieder in seine Rechte einsetzen. So kommt Franziska zu Reventlow in die Schweiz, sie verdankt diesem Land viel. Denn erst die Schweiz macht sie zur Schriftstellerin: Ascona ist stiller als München, sie muss den Ort mit Stimmen von innen füllen.
In den letzten Jahren, nach der verdienstvollen Neuedition ihrer Tagebücher durch Irene Weiser und Jürgen Gutsch, meinen die Informierten, Franziska zu Reventlow in Fanny zu Reventlow rückbenennen zu müssen. Als Franziska hat sie sich in Kürschners Literaturkalender eintragen lassen, Rilke und Klages haben sie so angesprochen. Der neue Name anstelle des ungeliebten stand für eine Selbsterschaffung, eine Eigenschöpfung – Nietzscheaner wissen um solche Mysterien, Philologen gelten sie eher als Unregelmäßigkeiten. Für ihren Sohn Rolf und seine Frau, die erste Herausgeberin Else zu Reventlow war sie Franziska. Wenn, dann müsste man diese Bürgerin der Republik der freien Geister „F. Gräfin zu Reventlow“ nennen, denn unter diesem Namen veröffentlichte sie ihre Bücher.
Am 25. Juli stürzt Reventlow vom Fahrrad
Nun ist über Franziskas einzigartiges Verhältnis zu ihrem Sohn, an dem sie alles gutmachte, was ihre Mutter an ihr falsch gemacht hatte, noch gar nichts gesagt. Dabei ist ihr Leben nur die andere Hälfte des seinen. Sie lässt ihn weder von der wilhelminischen Schule, noch von der Kirche, noch von einem Mann verbiegen. Nur einmal sind sie wirklich verschiedener Meinung, bei Kriegsausbruch. Rolf will mit der allgemeinen Begeisterung an die Front ziehen. Sie kann den bald Wehrpflichtigen kaum hindern, darf als Fanny von Rechenberg-Linten, Ehefrau des baltischen Alkoholikers, demnach Bürgerin des russischen Reichs und folglich feindliche Ausländerin, deutschen Boden nicht mehr betreten. Und doch wird sie die wohl einzige deutsche Mutter sein, der es gelingen wird, ihr Kind von der Front weg zu retten.
Am 25. Juli 1918 stürzt Franziska zu Reventlow in Locarno vom Fahrrad, sie stirbt trotz Notoperation am nächsten Morgen, im Alter von 47 Jahren. Man lernt freier zu atmen in ihrer literarischen Gegenwart, noch einhundert Jahre nach ihrem Todestag. Vielleicht hat niemand schöner gesagt, wer sie war, als der Freund und Mitanarchist Erich Mühsam: „Ich grüße diese Tote mit inniger Verehrung. ... Wenn sie lachte, dann lachte der Mund und das ganze Gesicht, dass es eine Freude war hineinzusehen, Aber die Augen, die großen tiefblauen Augen, standen ernst und unbewegt zwischen den lachenden Zügen.“
Von unserer Autorin Kerstin Decker ist gerade das Buch „Franziska zu Reventlow. Eine Biografie“ erschienen. Berlin Verlag, 384 Seiten, 26 Euro.
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