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Neustrelitz_Theater

© Mario Wagner

Neustrelitz: Die Modellbühnenbauer

Maximale Kunst mit minimalen Mitteln: Das Theater von Neustrelitz leistet Basisarbeit in der Region.

„Wenn Bernd die Bibel in die Höhe reckt, ist das dein Zeichen zum Loslaufen, Paul. Wenn du singst: ,So lag sie im Sarg, so ruht sie im Grab’ klammere dich ganz fest an dein Gewehr. Jetzt bitte nochmal ab der ,Vivace''-Stelle inklusive Dialog!“ Am Theater Neustrelitz proben sie die Wolfsschlucht-Szene aus dem „Freischütz“. Der Orchestergraben ist fast bis auf Bühnenhöhe hochgefahren, zwischen der Souffleuse und der Probenpianistin sitzt Jürgen Pöckel, der Regisseur. Das heißt, meistens springt er gerade auf, hechtet zur Bühne, um seinen Sängern etwas vorzuspielen, flitzt nach hinten ins Parkett, um die Fernwirkung einer Szene zu begutachten, diskutiert ein musikalisches Detail mit dem Dirigenten. Hinter Jürgen Pöckel liegt der Zuschauersaal im Halbdunkel. Die Reihen sind mit weißen Schonbezügen abgedeckt, so wie früher die Möbel in der guten Stube. Kein Wunder: Die vor kurzem angeschafften Sessel sind wahrscheinlich das Wertvollste im ganzen Theatergebäude. Fest im Polster, nicht so durchgesessen wie die Sitzmöbel aus DDR-Zeiten im Foyer.

Mittel für weitere Modernisierungsmaßnahmen wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Mitte der Neunziger haben sie mal im Eingangsbereich angefangen zu renovieren, haben Halogenspots in die Decke montiert, Granitböden verlegt. Doch schon für die Seitenumgänge zum Parkett hat das Geld nicht mehr gereicht. Hier verströmt noch das Vorwendelinoleum realsozialistischen Putzmittelgeruch, an der Decke hängen Lampen, die in den einschlägigen Retrodesign-Läden von Prenzlauer Berg zu Höchstpreisen gehandelt werden.

Selbst die allermeisten Opernfans wissen wahrscheinlich nicht einmal, dass es hier, mitten im dünn besiedelten mecklenburgischen Flachland, überhaupt eine Bühne gibt. Mit Chor, Orchester, eigenem Solistenensemble für Schauspiel und Oper. Wie so viele andere Stadttheater auch verdankt das Neustrelitzer Haus seine Existenz der Vielstaaterei. Unzählige Herrscher und Herrscherchen gab es bis zur Reichsgründung 1871 in deutschen Landen. Und sie wollten ihr Repräsentationsbedürfnis befriedigen. 1733 machen die Herzöge von Mecklenburg das Städtchen Neustrelitz zu ihrer Residenz, 1775 wird das Reithaus zum Hoftheater umgebaut. 1924 brennt das Gebäude ab, ersteht neu, wird dann im Bombenhagel der letzten Kriegsmonate erneut ein Raub der Flammen, ebenso wie das örtliche Schloss. Doch während die Reste des Herrschersitzes 1949 gesprengt werden, kann das Theater 1954 seine Pforten wieder öffnen. Ein Schiller-Zitat prangt seitdem auf dem Giebel des klassizistischen Eingangsportals: „Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben. Bewahret sie – sie sinkt mit Euch, mit Euch wird sie sich heben.“

Der pathetische Sinnspruch beschreibt exakt, welche Funktion das Landestheater Neustrelitz heute hat: In einer schrumpfenden Provinzstadt ohne echte Zukunftsperspektiven ist es mit 210 Angestellten nicht nur einer der größten Arbeitgeber, sondern vor allem auch der geistige Mittelpunkt des öffentlichen Lebens, eine Bastion bürgerlich-humanistischer Wertevermittlung. Mit minimalen Mitteln wird hier maximale Kunst gemacht. An den kleinen Theatern arbeiten die Künstler längst auf der Basis der Selbstausbeutung. Sechs Wochen Proben für jede Neuinszenierung, vormittags von 10 bis 14 Uhr, abends von 18 bis 22 Uhr. Oper ist und bleibt die aufwändigste und personalintensivste aller Kunstformen.

Und sie ist schwer an den Mann zu bringen: Leichte Muse läuft gut in Neustrelitz, nicht nur im Sommer bei den Operettenfestspiele im wunderschönen Schlosspark. Ansonsten zieht das, was die Leute kennen. Selbst bei einem heiteren Repertoirehit wie Donizettis „Don Pasquale“ füllt sich der 400-Plätze-Saal nicht automatisch, wenn das Stück zu lange nicht auf dem Spielplan stand. Planungssicherheit durch eine große Abonnenten-Gemeinde gibt es auch nicht. Dennoch gelingt es den Theaterleuten, rund 120 000 Besucher pro Spielzeit anzulocken – bei offiziell 22 000 Einwohnern in der Stadt und einem dünn besiedeltem Hinterland eine enorme Leistung.

Obwohl Mecklenburg-Vorpommern vom Tourismus lebt und der Tourismus zu einem nicht unerheblichen Teil von den kulturellen Angeboten vor Ort, will die Regierung in Schwerin ihren Zuschuss für seine sieben Theater bei 35,8 Millionen Euro pro Jahr „verstetigen“, das heißt angesichts von Inflations- und Teuerungsraten de facto: abbauen. Wenn 2020 der Solidaritätszuschlag für die Neuen Bundesländer wegfällt, soll es nur noch zwei Theaterstandorte in dem riesigen Flächenland geben. „Kulturkooperationsräume“ heißt das im Beamtendeutsch – und meint nur eines: massive Stellenstreichungen.

Bis 2012 sollen die kleinen Sprechbühnen in Anklam und Parchim aufgelöst werden sowie in Neustrelitz das ehemalige nationale Volkstanzensemble der DDR, heute „Deutsche Tanzkompanie“ genannt. In einem zweiten Schritt erfolgt dann die Zwangsehe der Mehrspartenhäuser. Im Fall von Rostock und Schwerin lässt sich eine Fusion zumindest räumlich vorstellen, weil die Städte nahe beieinander liegen. Wie aber soll ein Zusammenschluss von Stralsund, Greifswald und Neustrelitz funktionieren? Bei den Distanzen? Wahrscheinlich würde es darauf hinauslaufen, dass die Produktionen in den beiden, bereits zusammengeschlossenen, Küsten-Theatern entstehen und die Bühne in Neustrelitz lediglich mit Gastspielen belebt wird. Dabei hat Neustrelitz seit der Wende schon kräftig bluten müssen. Bei der Fusion mit dem benachbarten Neubrandenburg ging bereits die Ballettsparte verloren, das Opernorchester wurde entlassen. Bei den Aufführungen sitzt heute die Neubrandenburger Philharmonie im Graben.

Intendant Ralf-Peter Schulze hat ein Modell erarbeitet, mit dem er die Sparvorgaben erfüllen und dennoch sein Theater als eigenständige Institution erhalten kann. Dazu soll eine Art Dachorganisation gegründet werden, die als zentraler Dienstleister neben Neustrelitz und Neubrandenburg auch Anklam und die Tanzkompanie beliefert. „Ich fühle mich als Täter“, sagt Schulze, und es klingt kein bisschen larmoyant. „Wie viel Kreativität wird entfaltet, um das Diktat der Verluste umzusetzen, um eine Krise zu managen, die nicht von den Theatern verschuldet wurde.“

Schulze sitzt in einem Büro, das jeder städtische Verwaltungsangestellte als Zumutung empfinden würde: Niedrige Zimmerdecke, billiges Laminat auf dem Boden, die alte Raufasertapete gelb überpinselt. Ein Chef-Loch. Schulze kramt einen Zeitungsausschnitt hervor: „Bundesrat lehnt Initiative für Kultur als Staatsziel ab“. Zehn nüchtern formulierte Zeilen über das Scheitern einer von Klaus Wowereit vorgetragenen Idee, die in der Hauptstadt nur ein wissendes Kopfnicken hervorgerufen hat. Klar, dass die Erweiterung des Artikels 20b um den Satz „Der Staat schützt und fördert Kultur“ nicht zweidrittelfähig ist.

Der Staats schützt und fördert Kultur – für Menschen wie Ralf-Peter Schulze aber wäre das ein Riesending gewesen, ein gedanklicher Rettungsanker, eine Anerkennung für die vielen Jahre harter Arbeit an der Basis, in der Provinz. „Nein, länger trag ich nicht die Qualen“, wird Max abends auf der Neustrelitzer Bühne singen. Und Berlin, wo der Etat der drei Opern gerade um 20 Millionen Euro aufgestockt wurde, liegt Lichtjahre entfernt.

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