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Befreit. Kriegsgefangene der ponischen Heimatarmee 1945 im Emslandlager Oberlangen.

© Wikipedia

Ein verdrängtes Nachkriegskapitel: Die polnischen Besatzer im Emsland

Vor 70 Jahren wurde im Emsland eine polnische Besatzungszone eingerichtet. Die verdrängte Episode der Nachkriegszeit prägt individuelle Familiengeschichten bis heute. Unser Autor Kolja Mensing erzählt das Geheimnis seiner Großmutter.

Meine Großmutter sprach wenig über die Jahre nach dem Krieg. Eigentlich kannte ich nur die Geschichte von dem Unfall, der sich im Sommer 1945 im Garten ihres Elternhauses ereignet hatte, in Fürstenau, einer Kleinstadt im Nordwesten Deutschlands. Ein Nachbarsmädchen hatte in der Nähe des Bahnhofs eine flache Konservendose ohne Aufschrift gefunden, die sie zusammen mit einem Cousin meiner Großmutter zu öffnen versuchte. Die beiden Kinder stellten die Dose auf die steinerne Treppe am Hauseingang. Dann nahmen sie einen Hammer zur Hand.

Es brauchte genau sieben kräftige Schläge, um die Explosion auslösen: Die Kinder hatten keine Konservendose aufgelesen, sondern eine Signalmine, einen handtellergroßen Sprengkörper, der auf Eisenbahnschienen gelegt wurde. Plötzlich war überall Blut. Erwachsene stürzten aus dem Haus, und kurz darauf – so meine Großmutter – „kamen die Engländer“: Sanitäter der britischen Besatzungsarmee verbanden die zerfetzte Hand des Mädchens notdürftig, fuhren die beiden schwer verletzten Kinder anschließend ins Lazarett nach Lingen: Das Nachbarsmädchen behielt eine steife Hand zurück, der Cousin meiner Großmutter verlor ein Auge.

Nicht die Engländer halfen, sondern die Polen

Minen explodieren in Vorgärten, ungeliebte Besatzungssoldaten werden zu heldenhaften Rettern: Die Anekdote meiner Großmutter fügt sich in den standardisierten Satz von Erinnerungen ein, auf den auch heute noch – 70 Jahre nach 1945 – in vielen Familien zurückgegriffen wird, um die widersprüchlichen Gefühle gegenüber der Nachkriegszeit zu ordnen. Die Geschichte von der Signalmine hat allerdings einen kleinen Fehler: Im Sommer 1945 gab es in Fürstenau und Lingen gar keine britischen Soldaten und Sanitäter. Die beiden Städte gehörten zu einem Gebiet, in dem ausschließlich polnische Soldaten den Besatzungsdienst versahen – eine Tatsache, die bis heute weitgehend unbekannt ist und die meine Großmutter auch nie erwähnt hat. Immer wieder waren es in ihrer Geschichte Engländer und keine Polen, die nach der Explosion zur Hilfe eilten.

Józef Kozlik, der Großvater Kolja Mensings, in der Uniform der polnischen Besatzungsarmee.
Józef Kozlik, der Großvater Kolja Mensings, in der Uniform der polnischen Besatzungsarmee.

© privat

Einen ersten Einblick in die historischen Hintergründe bekam ich, als mir vor rund zehn Jahren eine Monografie des polnischen Historikers Jan Rydel in die Hände fiel: „Die polnische Besatzung im Emsland“ (fibre Verlag, Osnabrück 2003). Rydel hat als Erster die militärgeschichtlichen Quellen aufgearbeitet und den verwickelten politischen Entscheidungsprozess nachgezeichnet, der zu der Einrichtung einer polnischen Enklave innerhalb der britischen Besatzungszone führte.

Zunächst gab es dafür ganz pragmatische Gründe: Beim Vormarsch der britischen und kanadischen Truppen wurden im Frühjahr 1945 deutlich mehr Lager mit polnischen Gefangenen entdeckt, als man erwartet hatte, viele davon im Emsland. Zurück nach Polen konnten die befreiten KZ-Häftlinge, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter erst nicht. Der Eiserne Vorhang war eingerichtet, und so irrten viele von ihnen als Displaced Persons (DP) durch den Nordwesten Deutschlands. Mitte Mai fiel die Entscheidung, eine polnische Panzerdivision und eine Fallschirmjägerbrigade, die während des Kriegs im englischen Exil zusammengestellt worden waren, im Emsland und den benachbarten Gebieten für Besatzungsaufgaben heranzuziehen: Polnische Soldaten, so hofften die alliierten Befehlshaber, würden sich ihrer Landsleute schon annehmen.

Im Hintergrund stand allerdings die große Politik. Seit der Konferenz von Jalta, auf der Polen endgültig dem sowjetischen Einflussbereich überlassen worden war, waren die Briten unter Druck: Die Vertreter der polnischen Exil-Regierung in London fühlten sich verraten – und sollten durch die Einrichtung einer polnischen Enklave innerhalb der britischen Besatzungszone zumindest symbolisch entschädigt werden. Auf jeden Fall: Einer der polnischen Soldaten war der „Kapral“ Józef Kozlik, der nach Fürstenau abkommandiert wurde, sich dort in meine damals 17-jährige Großmutter verliebte und mit ihr im August 1946 ein Kind bekam – meinen Vater.

Mein polnischer Großvater

Das ist der Anfang einer nicht ganz einfachen Familiengeschichte. Ich habe versucht, sie in meinem Buch „Die Legenden der Väter“ zu rekonstruieren – auch weil ich meinen polnischen Großvater nie kennengelernt habe. Kaum einer der Soldaten blieb nach dem Ende der polnischen Besatzungszeit im Frühjahr 1947 in Deutschland. Viele gingen nach England, nach Kanada und in die USA. Józef Kozlik kehrte drei Jahre nach der Geburt meines Vaters zurück nach Polen, wo er 1984 im Alter von 59 Jahren im oberschlesischen Lubliniec starb. Meine Großmutter hatte nie von ihm gesprochen: Der Vater meines Vaters war sorgfältig aus dem Familiengedächtnis gestrichen worden – und wenn am sonntäglichen Kaffeetisch das Gespräch auf die Nachkriegszeit kam, wurden noch Jahrzehnte später aus den polnischen Besatzungssoldaten „die Engländer“.

Die kleine Korrektur in der Geschichte meiner Großmutter ist kein Einzelfall. Sie ist Teil eines kollektiven Verdrängungsprozesses mit verstörenden Auswüchsen. Als ich vor einigen Jahren mit den Recherchen zu „Die Legenden der Väter“ begann, war meine Großmutter bereits verstorben – und ich machte mich in Fürstenau auf die Suche nach Frauen, die nach dem Krieg in einer ähnlichen Situation gewesen waren. Einfach war das nicht. Eine freundliche ältere Dame, die meine Großmutter gekannt hatte, bestätigte mir zwar, dass es nach dem Krieg in Fürstenau eine Reihe von Frauen gegeben habe, die einen polnischen Soldaten zum Freund gehabt hätten – und es sei auch nicht selten gewesen, dass Kinder aus diesen Beziehungen hervorgegangen seien. Einige dieser Frauen würden sogar noch leben. Aber könnte ich mit ihnen reden? „Auf keinen Fall!“ Die Frau erklärte mir, dass ihre erwachsenen Kinder zum Teil bis heute nicht wüssten, wer ihre wahren Väter seien. „Sie können da nicht einfach klingeln und nach den Polen fragen“, sagte sie entsetzt: „Was glauben Sie, was Sie da aufrühren?“

Die regionalgeschichtliche Aufarbeitung fehlt bis heute

Ja, was? Das habe ich bei meinen Recherchen schnell gelernt: In Fürstenau und in den anderen Orten der ehemaligen polnischen Besatzungszone spricht niemand gern über die Nachkriegszeit. Eine regionalgeschichtliche Aufarbeitung fehlt auch 70 Jahre nach Kriegsende, von Gedenkveranstaltungen keine Spur. Ein dürrer Wikipedia-Eintrag und zwei, drei versprengte Zeitungsartikel sind die einzigen Hinweise auf diese vergessene Episode der Nachkriegszeit.

Die Wunden gehen tief. Doch da sich niemand gern erinnert (und mittlerweile kaum noch Zeitzeugen am Leben sind!), lassen sich die Gründe für die Verletzungen nur mühsam nachvollziehen. Dass nach Kriegsende ausgerechnet die Polen, die von der rassistischen Propaganda der Nationalsozialisten zu „Untermenschen“ erklärt und während des Kriegs (auch in und um Fürstenau) als Zwangsarbeiter versklavt worden waren, jetzt in Uniform in den Straßen deutscher Kleinstädte patrouillierten, war für die einheimische Bevölkerung offenbar nur schwer zu ertragen. Und es scheint, als hätten die polnischen Soldaten die Niederlage Deutschlands voll ausgekostet. Das beschreibt auch Jan Rydel: Die Besatzer zwangen die Deutschen, die Straßenseite zu wechseln, wenn sie ihnen auf dem Bürgersteig entgegenkamen, genau wie es die Soldaten der Wehrmacht in Polen während des Kriegs gemacht hatten, oder stellten angesehene Bürger zum Straßenkehren ab.

Darüber hinaus kam es zu Umsiedlungen in großem Stil: In mehreren Dörfern im Kreis Aschendorf/Hümmling musste die Mehrheit der deutschen Bevölkerung im Mai 1945 ihre Häuser räumen und sie polnischen DP’s überlassen, und kurz darauf wurde ein Teil der Bewohner der Stadt Haren an der Ems evakuiert und auf ländliche Gemeinden verteilt. Mehr als 40 000 Polen lebten damals in Haren, das im Juni 1945 vorübergehend in Maczków umbenannt wurde, nach dem polnischen General Stanislaw Maczek. Auch das ist heute fast vergessen.

Steinwürfe auf die "Polenhure"

Der größte Skandal aber war die Tatsache, dass es Liebesbeziehungen zwischen deutschen Frauen und polnischen Männern gab. In einigen Dörfern und Städten der polnischen Besatzungszone wurden nach dem Abzug der Truppen im Jahre 1947 die Namen der Mädchen und Frauen, die ein Verhältnis mit einem Besatzungssoldaten hatten, öffentlich gemacht: mit Listen, die über Nacht an die Türen von Kirchen und Rathäusern genagelt wurden. Und auf dem Land schoren junge deutsche Männer, die aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten, ihren Schwestern die Köpfe, weil sie sich mit einem Polen eingelassen hatten oder, schlimmer noch: weil sie ein Kind von ihm bekommen hatten.

Meine Großmutter wurde auf der Straße mit Steinen beworfen und als „Polenhure“ beschimpft. So gesehen ist es also alles andere als ein Wunder, dass in ihrer Erzählung von dem Unfall im Garten ihres Elternhauses aus den polnischen Soldaten britische Sanitäter geworden waren. Es ist eine kleine, private Geschichtsfälschung – allerdings eine, von der meine Großmutter geahnt haben muss, dass sie eines Tages aufgedeckt werden würde. Vielleicht hat sie ja sogar gehofft, dass ihre Anekdote irgendwann mit einem gewaltigen Knall explodieren würde, so wie die Signalmine an jenem Tag im Sommer 1945. Warum sonst hätte sie die Geschichte immer wieder erzählen wollen?

Kolja Mensings Buch „Die Legenden der Väter“ ist, überarbeitet und mit aktuellem Nachwort, im Verbrecher Verlag erschienen (277 S., 14 €). Der Autor liest am Freitag, 8. Mai, 20 Uhr, in der Berliner Buchhandlung Montag, Pappelallee 25.

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