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In der Malwerkstatt: Szene aus „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert.

© dpa/Longride/Berlinale

Die Seele ist unerschöpflich: Eine Begegnung mit Nicolas Philibert, dem Gewinner des Goldenen Bären

Fragil sind wir alle: Der französische Dokumentarist und Berlinale-Sieger über seinen Film „Sur l’Adamant“, eine schwimmende Tagesklinik auf der Seine.

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Ein Boot auf der Seine, mitten in Paris: Das L’Adamant ist eine Tagesklinik für Psychiatriepatient:innen. Die Kamera ist dabei, wenn in der Montagsrunde gemeinsam die Tagesordnung erstellt wird, wenn Patient:innen Chansons singen, ihre Gemälde oder das Filmclub-Programm diskutieren. Oder wenn sie von Stimmen im Kopf erzählen.

Von den bösen Schwingungen, vor denen sich einer mit Kristallketten schützt. „Wir sind fragile Menschen“, sagt ein anderer. „Wir haben vielleicht kaputte Gesichter. Deshalb haben wir ein Image-Problem.“

Es ist das zweite Mal nach „La moindre des choses“ (1995), dass der französische Dokumentarist Nicolas Philibert („Sein und Haben“, „Nenette“) sich Menschen mit psychischem Handicap nähert, mit „Sur l’Adamant“ hat Philibert den Hauptpreis der Berlinale gewonnen.

Zwei Tage zuvor, in der Interview-Lounge des Hyatt-Hotels am Potsdamer Platz, korrigiert der 72-Jährige die Interviewerin gleich, freundlich, aber bestimmt: „Nein, ich spreche nicht von Handicap bei meinen Protagonisten. Es sind Patienten, Menschen mit psychischen Problemen. Anders als Menschen mit geistiger Beeinträchtigung sind sie oft sehr intelligent und gebildet.“

Wir alle sind künftige Kranke, sagt Philibert

Zum Beispiel Frédéric. Im Film spricht er über Vincent und Theo van Gogh, philosophiert, komponiert Lieder, dichtet, zeichnet. „Er weiß zehn Mal mehr über das Kino als ich, kennt hunderte Filme auswendig, Einstellung für Einstellung, Filme von Jacques Rivette, Eric Rohmer, Robert Bresson, Godard, Wenders“, erzählt Philibert.   

Dass Philibert wiederholt an Orten dreht, an denen es um Krankheit geht – „Zu jeder Zeit“ (2019) handelte von einer Pflegeschule –, liegt vor allem daran, dass er die menschliche Seele ergründen möchte, wie er sagt, immer und immer wieder. „Sie ist unerschöpflich, es braucht ein ganzes Leben dafür.“

Nicolas Philibert auf der Berlinale.
Nicolas Philibert auf der Berlinale.

© REUTERS/MICHELE TANTUSSI

Während des Gesprächs wird Philibert nicht müde, die Stigmatisierung psychisch Kranker als potentiell gefährlich und schädlich für die Gesellschaft und vor allem den falschen Gegensatz von sogenannten gesunden und kranken Menschen zu kritisieren. „Das Thema Hilfe betrifft doch jeden von uns,“ sagt er. „Wir alle sind künftige Kranke, künftige Sterbende, wir alle werden uns eines Tages als Patienten in die Hände von Pflegepersonal begeben.“ Es sei onthologisch, wir seien so programmiert.

Die Psychiatrie oder Einrichtungen wie die schwimmende Tagesklinik zeigten unsere eigenen Probleme wie in einem Vergrößerungsglas, „unsere Grenzen, Ängste, Defizite, unsere Fragilität“. Deshalb sei diese Sphäre womöglich beunruhigend, beängstigend, schmerzhaft, aber auch sehr stimulierend. Wegen der Luzidität, der Intelligenz und der Radikalität der L’Adamant-Besucher:innen. Nicht zuletzt deshalb fühle er sich wohl im Kreis von Psychiatrie-Patienten.

Die Crew war klein, maximal vier Leute, die ein gutes halbes Jahr lang immer wieder auf das geräumige, mehrstöckige Holzboot kamen. Häufig kam der Regisseur auch alleine. Anfangs weckt das Filmteam die Neugier der Tagespatient:innen, sie fragen nach dem Equipment, der Tonangel.

Bald, das ist im Film deutlich zu spüren, gehören sie einfach dazu, etwa bei den Bildanalysen nach dem Mal-Workshop. Die Figur auf ihrem Bild sei eine Gottesanbeterin, sagt eine der Malerinnen. Die Spinne trage eine Fliege, weil sie Gäste erwartet.

„Ich drehe ja nicht mit einer ,caméra de surveillance’, sondern mit einer ,caméra de bienviellance,“ sagt wiederum Philibert. Keine Überwachungs-, sondern eine wohlwollende Kamera, ein schönes Wortspiel. Auch den Wechsel der Jahreszeiten fängt diese Kamera ein. Die Bäume am Seineufer, die Enten im Wasser, am Ende breitet sich Nebel aus. Nicolas Philibert mag das Diffuse, schimpft auf die heutige Zeit, die alles aussprechen, unzweideutig bezeichnen und dingfest machen will.

Die Patienten sind hier Subjekte, keine Problemfälle

Eine Bekannte von ihm, Psychologin und Psychoanalytikerin, hatte ihn auf das „L’Adamant“ aufmerksam gemacht, als es 2010 entstand, nach gemeinsamen Planungen mit Architekten, Fachkräften und Patienten. Ein Ausnahmeort, erläutert der Filmemacher, hier sind die Kranken keine Objekte, sondern Subjekte. Und ein gefährdeter.

„Dem Gesundheitswesen geht es schlecht, ganz besonders der Psychiatrie. Es fehlt an Geld, an Betten, das Personal wandert ab.“ Gerade in der Psychiatrie wechseln viele den Beruf. „Vor lauter Papierkram und Bürokratie werden sie zwangsläufig zu einer Art Gefängniswärter, statt Zeit für die Menschen zu haben.“ Deshalb hat Philibert einen unmissverständlichen Appell in den Abspann geschrieben, ausnahmsweise. Kino mit Botschaft ist sonst nicht seine Sache.

„Sur l’Adamant“ ist auch ein Film über Kreativität, über Wirbelstürme im Kopf, die Poesie, die daraus entsteht, den freien Fluss der Gedanken. Man könnte Philiberts Protagonisten stundenlang zuhören, nimmt Sätze mit, die lange nachhallen. Zum Beispiel dieser: „Man versetzt sich in andere hinein und glaubt, man kommt so davon“.

In zwei Wochen wird Nicolas Philibert den Film seinen Protagonist:innen zeigen - und vielleicht ja seinen Bären mitbringen. Er ist jetzt schon nervös. Als er mit seinem ersten Psychiatriefilm vor ein paar Jahren auf dem Boot zu Gast war, lange vor Beginn der Dreharbeiten zu „Sur l’Adamant“, haben sie ihn ganz schön auseinandergenommen. Die Diskussion dauerte zwei Stunden.

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