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„Charlatan“ im Kino: Dieser Doktor erkannte Ehebetrug am Urin
Jan Mikolášek gilt als genialer tschechischer Wunderheiler, der auch Nazis und Stalinisten behandelte. In „Charlatan“ erzählt Agnieszka Holland seine Geschichte.
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Fläschchen schütteln, ins Licht halten, die Flüssigkeit studieren: Jan Mikolášek (Ivan Trojan) kann anhand von Urin-Diagnosen Krankheiten erkennen, die er dann mit seinen Kräutertinkturen behandelt. Oder mit Hinweisen auf Mangelernährung oder Symptome von Ehebetrug. Den tschechischen Naturheiler hat es tatsächlich gegeben, er galt als Genie und soll Tausenden geholfen haben, zwischen den Weltkriegen wie auch danach.
Tag für Tag stehen die Patienten Schlange vor Mikolášeks Sanatorium, einer alten Villa in der Provinz. Auch hochdekorierte Nazis und Stalinisten behandelt er, sogar den Präsidenten persönlich. Mikolášek hält sich für sakrosankt, weil seine Kundschaft ihn verehrt. Aber als der Präsident stirbt, verliert er jede Protektion, wird vom kommunistischen Regime schikaniert, schließlich verhaftet und in einem Schauprozess des Mordes angeklagt.
Fläschchen schütteln, ins Licht halten: Regisseurin Agnieszka Holland macht daraus ein Leitmotiv von „Charlatan“, und ein ästhetisches Prinzip. In ruhigen, konzentrierten Bildern streift die Kamera durch düstere Räume, deren Stille von knarzenden Dielen und schnarrenden Scharnieren grundiert ist. Dort betrachtet sie das bleiche Gesicht des mysteriösen Protagonisten, sei es in seinem Behandlungszimmer, sei es im Gefängnis. Gesprochen wird wenig in diesem solide gearbeiteten Historienfilm. Wenn das Lichtgeviert des Fensterrahmens die trübe Körperflüssigkeit erleuchtet, wünschte man sich, diesen undurchdringlichen Mann auf ähnliche Weise ergründen zu können.
[In den Berliner Kinos Delphi Lux, Hackesche Höfe, Il Kino]
Denn Mikolášek erweist sich bei aller noblen Diskretion als spröder, moralisch zweifelhafter Held. Ähnlich wie die ruppige Lehrerin in Hollands „Potok/Spur“ von 2017, die den Wilddieben in ihrem Bergdorf das Handwerk legt und dabei selber Gewalt anwendet.
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Die polnische Filmemacherin, derzeit Präsidentin der European Film Academy, hat einen Faible für unsympathische Figuren. Für Menschen, die Gutes tun, aber nicht einfach gut sind und auf die man sich keinen rechten Reim machen kann. Da ist einerseits der unermüdliche, selbstlose Helfer und Heiler, der mit seinen naturkundlichen Kenntnissen medizinische Wunder bewirkt – in Rückblenden lernt der junge Jan (Josef Trojan, Sohn des Hauptdarstellers) bei der Mülbacherová (Jaroslava Pokorná, mindestens so knarzig wie die Tierschützerin in „Potok“) alles über die Heilkraft der Kräuter. Und da ist andererseits der eitle Eigenbrötler, der sich lediglich seinem Assistenten und Liebhaber František (Juraj Loj) gegenüber ein wenig öffnet.
In der Liebe ist Mikolášek ein mieser Egoist, ein Verräter. Was „Charlatan“, uraufgeführt auf der Berlinale 2020, noch komplizierter macht – und eine klare Diagnose unmöglich: Homosexualität galt als Verbrechen, womöglich wurde Mikolášek auch deshalb hinter Gitter gebracht. Als braver Katholik martert er sich deshalb ohnehin selbst. Holland fällt jedenfalls kein Urteil über das moralisch Verwerfliche ihres Helden. Auch wenn dessen abgrundtiefe Widersprüchlichkeit einen ratlos zurücklässt.
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