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Kultur: Dmitri Schostakowitsch: Kurt Sanderling und das Berliner Sinfonie-Orchester spielen die Symphonien Nr. 1, 5, 6, 8, 10 und 15

Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht, ein Sturz aus dem Leben in den Tod. Zuerst kommen auf ein Wecksignal der Trompete die einzelnen Soloinstrumente aus den Puschen, dann fassen die Instrumentengruppen Tritt und formieren sich zu einem Marsch.

Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht, ein Sturz aus dem Leben in den Tod. Zuerst kommen auf ein Wecksignal der Trompete die einzelnen Soloinstrumente aus den Puschen, dann fassen die Instrumentengruppen Tritt und formieren sich zu einem Marsch. Sein Tschingderassabum dürfte die Leningrader Philharmonie gründlich durchlüftet haben, wo 1926 Dmitri Schostakowitschs 1. Symphonie zur Uraufführung kam, die virtuose Abschlußarbeit eines Neunzehnjährigen: ein Triumph anarchistischer Kreativität über akademischen Muff. Der Schlusssatz verdichtet sich zu einem Kehraus, in dem alles bange Innehalten, selbst noch ein Memento mori der Pauken hinweggewischt scheinen. Nun aber beschwört ein Thema, largo expressivo vorgetragen von mittleren Streichern und Holz, die langsamen Sätze Gustav Mahlers. Nachher leere Intervalle, Parallelgänge, höhnisch traurige Trillerketten, duettierende Flöten.

Der Orchestersatz, der dieses Thema von Bachscher Größe qualvoll lange variiert, bis es verlöschen darf, ist ein Grabdenkmal auf einem Friedhof. Der Friedhof heißt Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. "Die meisten meiner Symphonien sind Grabdenkmäler", bekennt Schostakowitsch Anfang der siebziger Jahre dem Musikwissenschaftler Solomon Wolkow. Und jener Orchestersatz, von dem hier die Rede ist, leitet die 6. Symphonie ein, uraufgeführt im Sommer 1939, in der Zeit nach den großen Säuberungen des "Stählernen". Dass er so unvermittelt an den Schlußsatz der 1. Symphonie anschließen kann, hat natürlich zuerst ganz banale Gründe. In den siebziger und achtziger Jahren spielte der Dirigent Kurt Sanderling Symphonien von Schostakowitsch mit seinem Berliner-Sinfonie-Orchester ein, bei der Wiederveröffentlichung auf CD gerieten die zwei kürzeren Symphonien aneinander. Verheißt noch die Dur-Fanfare im Finale der Fünften Hoffnung, dem moralischen Druck standzuhalten, ist in der folgenden Symphonie eine totale Leere auskomponiert.

Ihr Freudentaumel hat den Charakter von Massenerschießungen. Das Urteil der stalinistischen Musikkritik über die ungewöhnliche Satzfolge dieser Symphonie - Largo, Allegro, Presto - ist von erbarmungsloser Hellsicht diesseits aller musikologischer Kategorien: die Sechste ist ein "Rumpf ohne Kopf". Vielleicht aber ist sie ein Kopf, dem der Rumpf amputiert wurde. Es gibt in der russischen religiösen Tradition den Jurodiwyi, den "Gottesnarren", der die Wahrheit sagt und doch relativ unantastbar bleibt, weil der Verrückte und nur er die verrückte Welt benennen darf. Aus dem Narren spricht Gott. Der Gottesnarr lebt gefährlich und geschützt; würde er beseitigt, suchte sich Gott eine andere Stimme oder verstummte. Der Gottesnarr sagt, dass er eine Symphonie zu Ehren Lenins oder "vom Werden der sozialistischen Persönlichkeit" oder die Musik zu einem Karl-Marx-Film schreibe. Er zieht seine 4. Symphonie aus Furcht vor Repressalien zurück, erklärt sie für unfertig und lässt sie ein Vierteljahrhundert später uraufführen, ohne eine einzige Note zu ändern. Er übt öffentlich Selbstkritik, die so genannte "Prorabotka", er liest Verlautbarungen auf Kongressen vor, die andere gegen ihn schrieben. Er ernährt seine Familie von dem Lohn für patriotische Filmmusiken und erhält Lenin-Preis auf Stalin-Preis. Er hält seine satirische Kantate "Rajok" zeitlebens unter Verschluß. Er schläft tagelang, wochenlang in Anzug, Mantel und Schuhen, den gepackten Notkoffer unter dem Bett, denn die Geheimpolizei kommt immer frühmorgens. Er überlebt. Auch Kurt Sanderling hat überlebt. Der Korrepetitor an der Städtischen Oper Berlin war nach Entlassung als "Nichtarier" und künstlerischer Tätigkeit im "Jüdischen Kulturbund" 1936 in die Sowjetunion emigriert, wo er Verwandte hatte. Sanderling fand eine Anstellung am Moskauer Rundfunk und debutierte am 12. Januar 1937 als Dirigent, war 1939 Chefdirigent der Philharmonie in Charkow und von 1941 bis 1960 Dirigent der Leningrader Philharmonie. Zum Chefdirigenten des Berliner Sinfonie-Orchesters berufen, kehrte er 1960 nach Deutschland, in die DDR, zurück.

Bereits im Oktober 1961 führte Sanderling die 5. Symphonie in Berlin auf, "die Musik des Alleingelassenen in einer Welt voller Gewalten, der er nicht Herr werden kann". Sanderling hatte ihre erste Aufführung in Moskau gehört, etwa 14 Tage nach der Leningrader Uraufführung. Und nach dem Generalverbot von Schostakowitschs Musik war Sanderling der erste Dirigent, der 1949 die Fünfte in Moskau dirigierte, ein Verdienst, das er herunterspielt. Aber nicht allein biografische Nähe des Komponisten zu seinem Interpreten macht die Interpretationen authentisch. Schostakowitsch und Sanderling treffen sich nicht nur in Unabhängigkeit des Denkens und Fühlens, sondern auch in jener seltenen Haltung, welche die Wahrheit der Kunst und die Wahrhaftigkeit des Künstlers gleich gewichtet. Sie verbindet das überlebenswichtige Gespür für "gute" und "schlechte" Menschen mit dem Gespür für gute und schlechte Musik diesseits jeder musikalischen Materialdiskussion. Sanderling mißversteht die 5. Symphonienicht als Rücknahme, sondern als kritische Fortsetzung der Mahlerschen Symphonik, insbesondere all derjenigen ihrer Elemente, die im westeuropäischen Komponieren für längst erledigt galten. Die musikalische Prosa der Fünften erzählt Unerzählbares. Der Durchbruch ihres Finales ist gegen den ganzen bisherigen musikalischen Verlauf gesetzt; das ist kein "Parteitagsjubel", sondern Aufruf zum Widerstehen. Der 21. November 1937, als die 5. Symphonie uraufgeführt wurde, wiederum in der Leningrader Philharmonie, ist eines der wichtigen Daten in der Musikgeschichte. Von der ungeheuren Wirkung dieser "Gaskammer der Gedanken" - nach Wolkow die Worte eines sowjetischen Komponisten - auf ihre ersten Hörer haben wir übereinstimmende, glaubwürdige Berichte. "Würden wir nach dem Anhören dieser Symphonie verhaftet werden, allein nur deshalb, weil wir dieses Werk überhaupt gehört hatten?" erinnert sich Kurt Sanderling.

War es Zufall, daß der Gottesnarr in den zweiten Satz seiner 11. Symphonie "Das Jahr 1905" eine naturalistische Erschießungsszene hineinkomponierte, und das ein Jahr nach blutiger Niederschlagung der ungarischen Demokratie - die 11. Symphonie, eine Symphonie mit zwei Programmen. Und war es denn so schwierig zu recherchieren, dass am Vorabend des deutsch-russischen Kriegs eine Aufführung der "Walküre" im Bolschoi-Theater auf direkten Befehl Stalins stattfand, ausgerechnet in der Inszenierung Sergej Eisensteins und ausgerechnet in der Zeit des Ribbentrop-Molotow-Pakts, als Stalin ein paar hundert deutsche Antifaschisten, jüdische Antifaschisten, die in der Sowjetunion Zuflucht gefunden zu haben glaubten, an Hitler auslieferte?

Das Zitat der Wagnerschen "Todesverkündigung" ist ebenso wenig nur private Anspielung wie das aus Rossinis Ouvertüre zu "Wilhelm Tell" und all die anderen Zitate, auch Selbstzitate, in Schostakowitschs letzter Symphonie. Allein die Entschlüsselung solcher ausgereifter Zitattechnik und Semantisierung des musikalischen Materials hilft uns aus der schlechten Entgegensetzung von Linientreue und Dissidenz, äußerem und innerem Programm, nicht heraus. Indem Kurt Sanderling die 1., 5., 6., 8., 10. und 15. Symphonie zueinander rückt, geheime und offizielle, innere und äußere Programme ineinandersetzt und miteinander konfrontiert, indem er objektiven Bericht inneren Erlebens gibt, verlegt er noch dem schlechtwilligsten Hörer den feigen Ausweg, das, was er da zu hören bekommt, in das glorreich überwundene 20. Jahrhundert abzuschieben.

"Die Geschichte, die wir sehen, widerholt sich eben doch. Ein und dieselbe Farce kann man zwei-, drei-, auch viermal im Leben sehen..." sagt Schostakowitsch, dirigiert Sanderling und sagt: "Aber die Stärke seiner Musik wird sich daran messen lassen müssen, wie spätere Generationen, ohne Zeugen der damaligen Zeit zu sein, seine Musik verstehen und - lieben werden." Der Namenszug, mit dem Schostakowitsch jedes Kapitel des Originalmanuskripts seiner Gespräche mit Wolkow handschriftlich abzeichnete und autorisierte, er steht mit vollem Recht über jeder der Symphonien auf den fünf Booklets. Schostakowitsch hätte jede der Interpretationen Kurt Sanderlings unterschrieben. Nach Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen und nach dem Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" wurden Vorwürfe laut, die Intellektuellen hätten zu den Verbrechen geschwiegen und immer nur geschwiegen. "Die Kunst ist der Zerstörer des Schweigens." Ein Gottesnarr im Zentrum des Terrors hat gesprochen.

Jens Knorr

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