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Weltabgewandt und ideal zum Untertauchen: das französische Département Ardèche, hier das Städtchen Viviers

© imago/alimdi

Dunkel wie das Weltall: Krimi-Meister Pascal Garnier endlich auf Deutsch

Pascal Garnier hat ein Dutzend makellose Thriller geschrieben. Jetzt sind die Bücher des 2010 verstorbenen französischen Schriftstellers endlich auch auf Deutsch zu entdecken.

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Gerade eben ist sie dem Tod entkommen, im letzten Moment. Agnès hat ins Lenkrad gegriffen, als die Fahrerin den Wagen in einer Kurve gegen einen Baum steuern wollte. Dann ist sie ausgestiegen und „der Boden unter ihren Füßen schwankte“.

Die Welt um sich herum nimmt sie mit hypersensibler Aufmerksamkeit wahr: „Noch nie hatte sie eine so dichte Stille erlebt, eine Ansammlung von Milliarden winziger Geräusche: das Fallen eines Blattes, das Kriechen eines Insekts, ein Lufthauch, das Aufgehen einer Knospe, das sanfte Wallen von Wasser irgendwo.“

Aber ist Agnès wirklich davongekommen? Denn jetzt läuft Éliette, die Fahrerin, auf sie zu, und in der Hand hält sie einen enormen Stein, „groß wie der Mond“. In Pascal Garniers Roman „Zu nah am Abgrund“ gibt es einige furchterregende Szenen, doch je gewalttätiger es zugeht, desto poetischer wird die Sprache.

Doch bevor es blutig wird, blendet der Autor gerne aus. Es geht Garnier um psychologische, mitunter auch philosophische Tiefe, um die vertrackten, unheilvoll aufgeladenen Konstellationen seiner Figuren. Deshalb wird der 2010 verstorbene französische Schriftsteller oft mit Georges Simenon verglichen.

Ein Körnchen Verrücktheit

„Zu nah am Abgrund“ spielt im Département Ardèche, einer Region im Südosten Frankreichs, die ein beliebtes Ziel für naturliebende und ruhesuchende Besucher ist. Dort ist Garnier gestorben, geboren wurde er 1949 in Paris, im kleinbürgerlichen 14. Arrondissement.

Einen ähnlichen Weg, aus dem Großraum der Metropole in die Provinz, hat auch seine Romanheldin Éliette Vélard zurückgelegt. Vierzig Jahre war sie mit ihrem Ehemann zusammen, dann hat der Krebs ihn ihr genommen.

Geboren in Paris, gestorben in der Ardèche: Schriftsteller Pascal Garnier

© rgaillarde/gamma/Septime Verlag

Nun lebt Éliette in einem alten Anwesen, in dem ehemals eine Seidenraupenzucht betrieben wurde. Das klingt mutig, aber genau das hat sie wohl gebraucht, „ein Körnchen Verrücktheit, um nicht in der Vernunft zu versinken“. Mit den Leuten von nebenan, den Landwirten Rose und Paul, ist sie befreundet.

Das nächste Dorf liegt acht Kilometer entfernt. Die Rentnerin besitzt keinen Führerschein, darum kauft sie sich ein Kleinfahrzeug namens Aixam, das sie als „motorbetriebenen Einkaufswagen“ bezeichnet. Er passt zur Gartenzwerg-Welt, in die sich die Rentnerin zurückgezogen hat.

Witwe wird Schmetterling

Berauscht vom Fahren (Höchstgeschwindigkeit 45 km/h), singt Éliette lauthals Brigitte Bardots Chanson-Klassiker „Harley Davidson“. Als sie mit dem Aixam liegenbleibt, taucht wie aus dem Nichts ein Mann im Dreiteiler und mit Aktentasche auf, der den Leichtwagen wieder flottmacht und zur Belohnung von Éliette mitgenommen wird.

Dieser Étienne, vor kurzem aus der Haft entlassen, nistet sich bei ihr ein. Er flirtet mit ihr, und sie verwandelt sich „von der Schwarzen Witwe in einen blauen Schmetterling“.

Aber in seiner Aktentasche stecken zwei Kilo Kokain, und mit dem Tod des Nachbarsohns, der mit seinem Auto in einen Abgrund stürzte, scheint er auch etwas zu tun zu haben. Die Situation verschärft sich, als Agnès vor der Tür steht, Étiennes Tochter. Erst verprügelt sie den Vater, dann lässt sie sich auf ein Liebesverhältnis mit ihm ein.

Toxischer kann man sich eine Dreiecksbeziehung kaum vorstellen. Das Setting und die Doppelbödigkeit erinnern an Claude Chabrols in der Provinz spielende Kriminalfilme, die obsessive Leidenschaft an James M. Cains Hardboiled-Klassiker „Wenn der Postmann zweimal klingelt“.

Kein Wort zu viel

Dem Wiener Septime Verlag kommt das Verdienst zu, Pascal Garnier auch im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen. Vor „Zu nah am Abgrund“ (französischer Originaltitel von 2010: „Trop près du bord“) hatte er bereits die Kriminalromane „Der Beifahrer“ und „An der A 26“ veröffentlicht, im Februar wird „Die Insel“ erscheinen.

Im Herbst soll ein weiterer Band folgen. Garnier hat erst mit 35 Jahren mit dem Schreiben begonnen, zuvor versuchte er sich unter anderem als Rockmusiker. Er hinterließ ein gutes Dutzend makelloser Thriller, eher schmale Roman noirs, in denen kein Wort zu viel fällt.

„Garniers Dunkelheit ist von der Art, wie sie nur Astronauten zu sehen bekommen: schimmernd, bodenlos und doch überall mit geheimnisvollen Lichtpunkten übersät, die zugleich eiskalt und seltsam tröstlich sind“, so hat der irische Schriftsteller John Banville ihn in einem Essay für die „New York Review of Books“ gerühmt.

Garniers abgründige Bücher sind so gut, dass man nach ihnen süchtig werden kann.

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