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Matt Mullican: „New Edinburgh Encyclopedia, 1825“

© Stefan Haehnel

Ein offenes Buch: Matt Mullicans großartige Arbeit über das Weltwissen

Weshalb macht sich ein Künstler die Mühe und kopiert eine Enzyklopädie mühsam von Hand? Weil ihre Struktur viel über unser Verständnis von Wissen verrät.

Von Dorothea Zwirner

Stand:

Bis unter die Decke des neun Meter hohen Eckraums sind die Frottagen der „New Edinburgh Encyclopedia“ von Matt Mullican dicht an dicht und wandfüllend arrangiert. Weithin sichtbar durch das markante dreiteilige Schaufenster der Galerie Thomas Schulte locken sie das staunende Publikum in die erste Einzelausstellung des US-amerikanischen Künstlers an diesem Ort. Es ist ein eindrucksvoller Gastauftritt des in New York und Berlin lebenden Mullican: Eigentlich wird er von der Galerie Capitain Petzel vertreten, aber da die Räume von Thomas Schulte für die Präsentation der titelgebenden Edition wie maßgeschneidert sind, kam es zu der Kooperation.

Historische Illustrationen, Schemata, Diagramme, Konstruktionszeichnungen und Schautafeln von Anatomie bis Zoologie: Auf 449 Blättern entfaltet sich in den Fensterräumen eine von oben nach unten alphabetisch geordnete Wissenswelt, die einer britischen Enzyklopädie von 1825 durch die älteste Reproduktionstechnik des Abriebs entnommen sind. Sie ist eine geradezu ideale Vorlage für den 1951 in Santa Monica geborenen Künstler, der für seine Piktogramme bekannt ist.

Denn die ewige Sehnsucht des Menschen, das gesamte Weltwissen systematisch zu erfassen und darzustellen, wird hier greifbar. Aber auch, wie zeit- und kontextabhängig unser Wissen ist: In dem historischen Nachschlagewerk liegt ein klarer Schwerpunkt auf Technik, Natur- und Ingenieurswissenschaften. Ganze fünf Seiten sind der bildenden Kunst gewidmet.

So vollständig war die Arbeit noch nie zu sehen

Für die umfangreiche Edition, die 1991 von der auf Druckgrafik spezialisierten Brooke Alexander Gallery in einer 10er-Auflage verlegt worden ist, steht ein hölzerner Grafikschrank mit 16 Boxen wie eine minimalistische Skulptur zur Aufbewahrung bereit. Einzigartig wird die Edition in Verbindung mit den 449 korrespondierenden Reliefplatten aus Magnesium, die jede Seite der Enzyklopädie reproduzieren und den gesamten Innenraum der Galerie passgenau füllen (650.000 US-Dollar). Angeordnet auf fünf Holzschienen übereinander reihen sich die Druckplatten zu einer musealen Installation, in der die Besucher wie durch ein offenes Buch spazieren können. Noch nie war die Edition, obwohl schon in zahlreichen europäischen Museen ausgestellt war, so dicht, präzise und vollständig zu sehen.

Von der ursprünglichen Enzyklopädie über die vergrößerten Druckplatten bis zum Papierabrieb lässt sich nachvollziehen, wie die Weitergabe von Wissen analog zur Geschichte der Reproduktion verläuft. Immer schon waren es technische Innovationen vom Buchdruck bis zur Digitalisierung, die unsere Wissens-, Ordnungs- und Darstellungssysteme und damit unser Denken geprägt und verändert haben.

Ein Kosmos aus Glaskugeln

Passend zur musealen Atmosphäre präsentieren sich 20 mit Marker beschriftete und bezeichnete Glaskugeln auf einem zentralen Tisch als Mullicans „Kosmologie“ von 1995 (85.000 US-Dollar). Bei dem Werk, das im Zuge seines DAAD-Aufenthalts 1995 in der Neuen Nationalgalerie ausgestellt war, handelt es sich um das persönliche Weltmodell des Künstlers. Er fasst seine drei zentralen Fragen nach dem Leben vor der Geburt, dem Leben nach dem Tod und dem Sinn des Lebens in eine komplexe Kosmologie und entwickelt diese ständig weiter. Auf der Suche nach der grundlegenden Struktur des Kosmos ordnet er Leben und Tod, Himmel und Hölle, Schicksal und Zufall samt Gott, Engeln und Dämonen immer neu, um die Ganzheit des Universums zu erfassen.

Der Künstler lässt sich hypnotisieren

Sein analytisch-enzyklopädischer Ansatz schließt immer auch eine spirituelle Dimension ein, wofür Matt Mullican neben sämtlichen Techniken und Materialien seit langem auch Hypnose nutzt. Dieselbe Spannweite zwischen konzeptuellem und spirituellem Modellcharakter findet sich auch in der Vitrine „Data Base“ von 1994 (175.000 US-Dollar), die auf fünf Ebenen Mullicans Welten hierarchisch anordnet: in die Welt des Subjekts, der Zeichen, der Elemente sowie die ungerahmte und die gerahmte Welt.

Wer das Glück hatte, während des Gallery Weekends vom Künstler selbst durch die Ausstellung geführt zu werden, konnte einen passionierten Lehrer und erfahrenen Gastdozenten erleben, der seit 2009 zehn Jahre an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg unterrichtet hat. Der didaktische Aspekt seines Werks paart sich mit einer kreativen Logik, die gleichzeitig die Sehnsucht wie die schiere Unmöglichkeit offenbaren, die Welt und das Leben in ihrer Gesamtheit begreifen und darstellen zu wollen.

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