zum Hauptinhalt
Schulstunde. Der Wiener Wissenschaftler Anton Zeilinger zeigt im Fridericianum die Versuchsanordnung „Quantum Now“, die er mit Studenten erarbeitet hat.

© Roman März

Documenta: Ein Quantum Quantenphysik

Die Documenta in Kassel will Kunst mit Wissenschaft verbinden. Die Formel dafür versteckt sie allerdings in Essays und Katalogen. Ein etwas anderer Rundgang.

Stand:

Die Kampagne ist vorbei, der Wahlkampf gewonnen. Auch in den letzten Wochen der 13. Documenta bilden sich lange Schlangen vor den Ausstellungsorten. In Scharen defilieren die Besucher durch die Kasseler Karlsaue, in der gut 50 der 190 künstlerischen Positionen in meist pittoresken Gartenhäuschen ausgestellt sind.

Nach so vielen Erfolgs- und Rekordmeldungen könnte die Leiterin der Weltkunstausstellung entspannt aus der Manege treten, Livree und Zylinder ablegen und ernsthaft sagen, worum es geht. Statt von Heilung, dem Wahlrecht für Bienen oder der Grammatik der Hunde zu reden und die Medien mit Exzentrik zu füttern, dürfte Carolyn Christov-Bakargiev endlich verraten, wie ihre Documenta zusammengesetzt ist. So wie sie im Fridericianum, dem Herzstück der Schau, Versuchsanordnungen der Quantenphysik aufstellt und erläutern lässt, könnte sie nun auch über die Documenta-Formel informieren. Genau hier liegt das Problem. Die Kuratorin schwärmt von einer wissenschaftlichen Vision. Ihre kunstwissenschaftlichen Ideen aber deckt sie nicht auf.

Und so erklärt der 820 Seiten starke Katalog („Das Buch der Bücher“) in aufeinander bezogenen Essays die Welt. Ein Begleitbuch beschreibt auf fast 540 Seiten die Werke, und das Logbuch schildert auf 320 Seiten die Vorarbeiten – ein Familienalbum. Wer aber den genetischen Code der „ganzheitlichen und nichtlogozentrischen Vision“ begreifen will, ist auf Mutmaßungen angewiesen. Die Präambel der Kuratorin, die in jeder der drei Publikationen wie ein Glaubensbekenntnis abgedruckt wird, verkündet ein „sinnliches, energetisches und weltgewandtes Bündnis zwischen der aktuellen Forschung auf verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Feldern und anderen, historischen ebenso wie zeitgenössischen Feldern“. Mehr als eine Phrase ist das nicht. Und wer durfte diesen Pakt aller „Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt“ verhandeln? Über 100 Werke hat die Documenta-GmbH in Auftrag gegeben. Sind alle geglückt? Wer entscheidet eigentlich, ob die Auseinandersetzung mit den Kontroversen der Quantenphysik gelungen oder gescheitert ist?

Die Antwort kennt der Wind, der in Ryan Ganders Luftströmungsstudie durch das halbleere Erdgeschoss des Fridericianum streicht. Kann man Paul Ryans esoterisch-vogischen Weltverbesserungstempel, in dem die Beziehungen zwischen den Menschen symmetrischer austariert werden sollen, und das brillantverstörende Dokumentarprojekt „The Boat Modes“ des Künstlerduos CAMP über die Modalitäten des Lebens auf See nur ein paar Meter weiter in der Karlsaue als gleichwertige Kommentare unserer Lebenswirklichkeit betrachten?

CAMP zeigt in verstörenden Videobildern den Handel in den Randzonen des Weltkapitalismus als artistisches Glücksspiel der ökonomischen Akteure. Wie in einen Videoclip taucht das Publikum in die menschenverachtende Ökonomie der Billigschifffahrt des Indischen Ozeans ein und lernt atemlos, wie sich der seefahrerische Überlebenskampf aus überliefertem handwerklichen Wissen im Schiffsbau und der Aneignung neuer Technologien speist. Der Blick tanzt einem dämonischen Warenkreislauf hinterher. Camp unterhält uns mit Bildern, die politische Schlussfolgerungen verlangen.

Die Documenta verwandelt die Stadt in einen Atlas des Wissens

Aber kann eine Kuratorin ihren Ausstellungsparcours so organisieren, dass introspektives Künstleryoga und profunde Langzeitrecherche diskursfrei nebeneinanderstehen? Diese Documenta sagt: Ja, man kann. Vom Mangoldfloß Christian Philipp Müllers (Bioküchenkraut auf Hightech-Flößen in Kooperation mit dem Institut für ökologische Agrarwirtschaft) bis zu Mika Taanilas episch detailversessenem Videogemälde über den Bau eines gigantischen Atomreaktors im finnischen Eurajoki findet sich alles in dieser Ausstellung auf Augenhöhe miteinander, als sei jede Perspektive gleichwertig, nur weil sie als Kunst bezeichnet wird.

Alles, was einleuchtend oder abseitig ist an der zeitgenössischen Kunst, ist in Kassel zu sehen. Fiebrig um Vielfalt bemüht, verwandelt die Documenta die Stadt in einen Atlas des Wissens. In der Orangerie tummeln sich Elektroniker und Astronomen, im Fridericianum arrangiert sie Medizin, Physik und Geschichte rund um eine Art kulturwissenschaftliche Studienbibliothek. Im Ottoneum verweist sie subtil auf Naturgeschichte und Agrarwissenschaft und zeigt die Kunst als Erzählerin, die den Blick auf die Natur von unseren ökonomischen Vorurteilen befreit. Und immer wieder streut sie zwischen dem Hauptbahnhof, dem alten Finanzamt und rund um den Weinberg in Kassel malerische, filmische, installative Essays aus, die sisyphoshaft den tagtäglichen Medienbildern entgegentreten.

Ein Kaleidoskop von Gegenbildern ist das, und fast scheint es Christov-Bakargiev egal, ob dabei Kriegsbilder in Malerei oder Lokalgeschichte in cineastische Dramen verwandelt werden. Hauptsache, Kunst wird als Mittlerin sichtbar, saugt Wissen in sich auf, öffnet sich zu etwas anderem als nur sich selbst, arbeitet sich ab an dem, was außer ihr ist. Die Documenta-Formel könnte heißen: Kunst ist Forschung, wenn sie mehr als nur sich selber kennt. Ob sie dabei in Abgründe blickt oder ihren Frieden macht, die eigenen Wahnvorstellungen zelebriert oder über Leichen geht und aus jedem Schrecknis nur neue Formen destilliert, interessiert in Kassel schon weniger.

Nach der 12. Documenta, die sich nicht für die Welt, sondern nur für den eigenen kuratorischen Formenrausch interessierte, ist das ein großes Glück. Dass Christo-Bakargiev aber nicht über die Kriterien, die Unterschiede, das qualitative Gefälle der künstlerischen Wissensaneignung reden will, ist ein ebenso großes Pech. Weil das Publikum den Sinn und Unsinn all dieser Verfahren und Methodologien nicht debattieren, sondern auf 1680 Seiten nachlesen soll.

Dass gleich mehrere Auftragsarbeiten sich auf Gunnar Richters Pionierforschungen zu Kassels lange verdrängter NS-Geschichte beziehen, ist klug. Agrargeschichtliche Bezüge ins Kasseler Umland zum Anlass für postkoloniale Fragen zu nehmen, das verknüpft elegant die alte mit der neuen Welt. Doch wer die Kunst mit mehr als 100 wohlplatzierten Auftragsarbeiten auffordert, ihren Umgang mit der Welt zu offenbaren, darf sich als Kuratorin nicht hinter Geheimformeln verstecken. Die Documenta hätte den Methodenstreit führen können, dem sich die Museen heute verweigern. Dass Carolyn Christo-Bakargiev grundlegende Fragen der zeitgenössischen Kunstproduktion aufwirft, die widersprüchlichen Antworten aber nicht hören will, ist dann doch eine Enttäuschung.

Bis 16. 9. Infos: www.documenta.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })