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Der französische Schriftsteller Édouard Louis. Er wurde 1992 im nordfranzösischen Hallancourt geboren. 

© dpa / Henning Kaiser/dpa

Neues Buch von Édouard Louis: Von Klasse zu Klasse

In seinem fünften Buch gibt der französische Autor Édouard Louis eine nachdrückliche „Anleitung ein anderer zu werden“. Ein Roman als ständige Selbstausleuchtung.

Edouard Louis’ neuer Roman „Anleitung ein anderer zu werden“ hört dort auf, wo er mit dem Schreiben seines Debütromans „Das Ende von Eddy“ beginnt. Darin hat Louis, der 1992 im nordfranzösischen Hallencourt als Eddy Bellegeule geboren wurde, die Geschichte seiner Kindheit erzählt; einer Kindheit, mit der Louis, wie er einmal in seiner Bücher gestand, keine einzige glückliche Erinnerung verbindet: aufgewachsen in prekären Verhältnissen und einem zur Gewalt neigenden Umfeld, angefeindet wegen seiner Homosexualität, auch von der eigenen Familie.

„Ich wuchs in einer Welt auf“, schreibt der französische Schriftsteller nun, „die alles ablehnte, was ich war.“ Er beginnt wieder von vorn, wohl wissend, dass er diese Geschichte schon oft erzählt hat, und nicht nur diese. Dieses Mal, in seinem inzwischen fünften Buch, geht Louis einige Schritte weiter, um zu begreifen, wie er wurde, was er jetzt ist: ein Schriftsteller, der seiner Klasse entkommen ist und einen anderen Lebensweg eingeschlagen hat – um doch von seiner Herkunft stets aufs Neue eingeholt zu werden. Was einerseits eine gewisse Tragik beinhaltet, ihn mit seinen gerade einmal dreißig Jahren andererseits zu einen erfolgreichen Schriftsteller gemacht hat.

Also von vorn: Édouard Louis erzählt dem Vater, diesen in der zweiten Person Singular ansprechend, in Form einer „fiktiven Aussprache“ von seiner Eddy-Kindheit, kommt jedoch schnell zu einer ihm sehr wichtigen Freundin, Elena. Sie hat er auf dem Gymnasium in Amiens kennengelernt, der seinem Heimatdorf nächstgelegenen größeren Stadt: „Nach der Begegnung mit Elena entschied ich mich für einen neuen Lebensstil, für die Codes einer neuen Klasse und für alles, was damit in Verbindung stand, Kunst, Literatur, Film, weil ich auf diese Weise Rache für meine Kindheit nehmen konnte, weil es mir Macht über dich, über meine Herkunft, über die Armut, über die Beleidigungen verlieh (...).“

Wie das eigene Dorf und die Familie lässt er auch Elena hinter sich

Louis benutzt Elena, wie er später erkennt. Wie das Dorf, wie die eigene Familie lässt er sie hinter sich: sie, in deren bürgerlichen Elternhaus er jenen neuen Lebensstil verinnerlicht hat. Und die Kleinstadt, die ihm zunächst so viel bot, so anders erschien als alles, was er bis dahin kannte. Nachdem er in Amiens einen Vortrag des Philosophen und Soziologen Didier Eribon gehört, diesen kennengelernt und dessen Buch „Rückkehr nach Reims“ gelesen hat, wird Paris zu seinem neuen Sehnsuchtsort.

Ein weiterer Umzug folgt; im Visier hat er dabei die Aufnahme an der französischen Eliteuniversität „École normale supérieure“. Eribon und dessen Freund Geoffroy de Lagasnerie protegieren ihn, vor allem intellektuell. Nicht weniger wichtig sind die neuen, oft sehr reichen Freunde und Sexpartner. Diese unterstützen Louis finanziell, helfen ihm, seinen Körper fit für ein bourgoises Milieu zu machen, geben ihm eine Wohnung, laden ihn ein, zahlen ihm Klamotten oder eine Gebissanierung.

„Anleitung ein anderer zu werden“ besteht aus zwei unterschiedlichen Erzählbewegungen: Der Roman ist eine Entwicklungs-, und Emanzipationsgeschichte, ein fortlaufender Bericht; und er fungiert als eine ständige Selbstausleuchtung. Édouard Louis stellt sich in Frage, geht mit sich ins Gericht, weil er ahnt, nein: weiß, dass ihm sein Werdegang über alles geht. Er hat die Menschen, die ihm wohl gesonnen sind, oft nur für seine Zwecke gebraucht: „Die Geschichte meines Lebens ist eine Abfolge zerbrochener Freundschaften.“

Dieses Schuldbewusstsein wirkt glaubwürdig. Bisweilen hat man allerdings den Eindruck, dass das Ganze zwar nicht über die Maßen kokett ist, aber zur Manier wird. Wenn er zum Beispiel Elena einen Monolog halten lässt oder er mit ihr ebenfalls eine fiktive Aussprache führt, unter einem Titel, der Peter Handke variiert: „Kurze Briefe für einen langen Abschied“. Natürlich hat man vieles von dem, was Louis hier gleichermaßen erzählt wie analysiert, schon in seinen vorherigen Büchern gelesen; auch das literarische Formprinzip ist bekannt, die Perspektivwechsel, die ständigen Wiederholungen.

Trotzdem enthält dieses Buch abermals faszinierende Passagen. Louis vermag seinen Klassenwechsel, seine proustischen Anverwandlungen mit einer trocken-kühlen Sprache immer wieder auf den Punkt zu bringen. Am Ende zweifelt er, ob er wirklich ein anderer geworden ist. Da versucht er sich schließlich in einem – sprachlich allerdings dürftigen – Erinnerungsstakkato. Er beschwört ein Glück in der Vergangenheit, das ihm, wie er weiß, nur die Erinnerung verschafft. Offensichtlich wird dabei: Édouard Louis ist noch lange nicht fertig mit dem Erzählen seiner Lebensgeschichte.

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