Kultur: Eine Mädchenfrau läuft Amok
Sie war eine Mörderin, eine Muse und ein Mädchenfrau.Sie war schrill, verschmust und schlafwandlerisch, knallhart und zart, eine Rebellin und ein Rätselkind.
Sie war eine Mörderin, eine Muse und ein Mädchenfrau.Sie war schrill, verschmust und schlafwandlerisch, knallhart und zart, eine Rebellin und ein Rätselkind.Einen Gefühlsausdruck setzte sie neben den anderen, übergangslos, voraussetzungslos, bedingungslos.So träumte und tobte Anne Tismer dahin auf den Bühnen zwischen Österreich, Deutschland und der Schweiz, immer höher hinauf, von Bonn und Freiburg nach Salzburg, Zürich und Wien."
1998 wählte die deutschsprachige Kritik Anne Tismer zur zweitbesten Schauspielerin des Jahres.In diesem Jahr tritt sie als Hauptdarstellerin in gleich zwei Produktionen beim Berliner Theatertreffen auf: Sie ist die Susanne in Ödön von Horváths "Figaro läßt sich scheiden" (Regie Luc Bondy, Theater in der Josefstadt) und die Ricarda im "Kuß des Vergessens" von Botho Strauß (Regie Matthias Hartmann, Zürcher Schauspielhaus).1989, mit 26 Jahren, spielte Anne Tismer im badischen Freiburg eine blutjunge, blutlüsterne "Judith" - Friedrich Hebbels Jüdin, die um des Friedens willen Holofernes schlachtet, den Mann.Jürgen Kruse inszenierte nicht die Glaubenstragödie, sondern den Geschlechterkampf.Der offensive Feminismus war damals auf seinem Höhepunkt.Da kam Anne Tismer, Vertreterin einer neuen Frauengeneration.Sie beseitigte den Mann und verzweifelte zugleich daran.In den vielen Paarbeziehungen, die Anne Tismer seitdem gespielt hat, hat sie immer die Erfahrung ihrer Judith von damals weitergetragen: Gleichwertig in ihrer Verschiedenheit müssen Mann und Frau sich lieben und hassen zugleich, leidenschaftlich.Auch Botho Strauß, dessen "Kalldewey, Farce" für Anne Tismer das erste einschneidende Theatererlebnis war, ist auf einigen Umwegen wieder zum Doppelkern eines jeden Paars zurückgekehrt: "Sie liebten und sie liebten sich nicht.Sie wollten sich und wollten sich nicht.Sie waren wie Berg und Tal, Frau und Mann, und blieben zusammen, unzertrennlich und unvereinbar."
So schreibt Botho Strauß in seinem "Kuß des Vergessens"; so wird man die beiden nun beim Theatertreffen sehen, Otto Sander und Anne Tismer.Er: ein alterner Hobby-Astronom, sarkastisch, nüchtern.Sie: eine junge Frau, die nach den Sternen greift, hochauffahrend in ihrer Wut.Beide: unauflöslich verbunden in ihrer Verschiedenheit - so wie Anne Tismer vielleicht das ganze Theater als Gegenspieler braucht.Hat Anne Tismer keinen Gegenpol, der sie in einem gemeinsamen Kraftfeld hält, ist manchmal zu spüren, daß sie leicht außer sich gerät, dann fußbreit neben der Rolle steht.Bei dem Regisseur Jürgen Kruse, diesem Exorzisten, der dem Theater seinen Naturalismus austreibt, bekam Tismer oft etwas Hochkünstliches, mißriet Affekt zur Affektiertheit, zur schrillen Nummer.Wer sie jedoch als Regisseur sanft anfaßt, kann Theaterwandlungswunder bewirken.Dann hat Anne Tismer eine vollkommene Bühnenpräsenz mitten aus dem Text heraus und steht zugleich wie neben sich selbst, wirkt traumverloren, somnambul - wie in Giesings Zürcher Inszenierung von Musils "Schwärmern".
Es ist ein so inniges Verhältnis zwischen Anne Tismer und dem Theater, daß sie darüber im Grunde nur schweigen kann.Wenn man sie trifft, macht sie nicht viele Worte.Es schwingt darin eine ungewöhnliche Achtung vor dem Beruf des Schauspielers, vor den religiösen Ursprüngen des antiken Dramas, vor den Ritualen, die heutzutage immer mehr verloren gehen - und stets spürbar ist bei Anne Tismer eine Scheu, das "Heilige" zu benennen, die spirituelle Kraft des Theaters.
In Versailles 1964 geboren als Tochter eines Unilever-Managers, zog sie viel in Europa herum.Sie begann Jura und Sinologie zu studieren: "Aber ich war damit nicht richtig zufrieden." Sie studierte am Wiener MaxReinhardt-Seminar.Ihr erstes festes Engagement in Bonn unter Peter Eschberg - ein Desaster: "Da bin ich Amok gelaufen, nichts war so, wie ich es mir vorher gedacht hatte." Nach der fristlosen Kündigung: Theaterarbeiten in Zürich, unter anderem mit Christoph Marthaler.Weil sie Peter Stein verehrte, ging sie mit dem Stein-Schüler Jürgen Kruse nach Freiburg, der war aber längst auf einem anderen Trip, seinem Zerspiel-Theater - "sehr düster, nihilistisch, von Weltschmerz geprägt".Dennoch war Freiburg für Anne Tismer eine "sehr produktive Zeit".
Mit Kruse zog sie weiter nach Stuttgart und schließlich nach Bochum.Aber daß dort ein Drama, an dem ein Autor jahrelang geschrieben hatte, binnen weniger Probenminuten umgemodelt wurde, machte ihr immer weniger Spaß.Inzwischen geht ihre Tochter auf die Waldorf-Schule in Berlin, wo Anne Tismer heute in Kreuzberg wohnt: "Wie ernsthaft und ohne Zynismus an Waldorfschulen mit alten Texten umgegangen wurde, hat mich beeindruckt.In der Richtung wollte ich arbeiten."
Anne Tismer verließ Bochum, sie fand dorthin, wo sie von Beginn an hinwollte, zum "klugen und behutsamen" Peter Stein (in Grillparzers "Libussa", Salzburg 1997), auch zu Giesing nach Zürich und zum "gewissenhaften" Matthias Hartmann, zu Regisseuren wie Luc Bondy.Wo Texte und Dialoge nicht als Material zerrupft, sondern erarbeitet wurden wie neu.Anne Tismer spielt nur noch zwei Inszenierungen pro Jahr - mit Regisseuren, die sie sucht, weil diese sie suchen für eine ganz bestimmte Produktion.An ein festes Ensemble will sie sich vorläufig nicht mehr binden: "Ich bin eine Einzelgängerin, ich mag lieber Distanz."
"Der Kuß des Vergessens" am 14.und 15.Mai, "Figaro läßt sich scheiden" vom 18.bis 20.Mai, jeweils im Schiller Theater Berlin
CHRISTINE RICHARD