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Wirt Heikki (Pertti Sveholm) ist während der Pandemie sein bester Gast, aber auch nicht sein einziger.

© Arsenal Verleih

„Eine Nacht in Helsinki“ im Kino: Im Lockdown an der Theke

In Mika Kaurismäkis lakonischer Finnen-Komödie „Eine Nacht in Helsinki“ wird eine Kneipe zum Sammelbecken der verlorenen Seelen.

Es wird wieder hell draußen. Alle rechtmäßigen Bürger beginnen ein neues Leben. Nur man selbst gehört nicht dazu, ist wie durch Glas getrennt von den anderen: So ungefähr fühlt es sich an, von der letzten Nacht übriggeblieben zu sein. Wie Juhani, Heikki, Risto und Eeva. Es ist eine der misslichsten Befindlichkeiten überhaupt. Es sei denn, die ersten Sonnenstrahlen treffen auf einen ganz neuen Menschen, wiedergeboren noch zu Lebzeiten. Wie Juhani, Heikki, Risto und Eeva. Und wodurch? Durch zu viel Reden.

Das Kino hat diese berückende Konstellation schon oft durchgespielt, am wunderbarsten vielleicht in Richard Linklaters „Before Sunrise“. Damals liefen Ethan Hawke und Julie Delpy eine Nacht lang durch Wien, und redeten und redeten, bevor sie am nächsten Morgen den Zug nach Paris nehmen musste – und er auf seinen Flug nach Hause, nach Amerika, wartete. Aber diese Nachtredner waren jung.

Die hier sind eher alt, Ende 50 mindestens. Und außerdem sind es nur Männer, bis fast zuletzt. Es ist überhaupt erstaunlich. Es gibt Regisseure, von denen erwartet man gar nichts anderes, als dass in ihren Filmen unablässig gesprochen wird. Aber Mika Kaurismäki gehört genau wie sein Bruder Aki nicht dazu. In einem Kaurismäki-Film redet gewöhnlich eher das Mobiliar als sein Besitzer.

Vorbei. Nun werden selbst die Finnen zu Rhetorikern. Immerhin, alles fängt noch sehr vertraut an: mit einem einsamen, natürlich schweigenden morgendlichen Läufer in einer einsamen, natürlich schweigenden morgendlichen Stadt. Also Helsinki. Und doch ist diese Tristesse noch anderen Ursprungs: Das hier ist Corona.

Ein wenig leichtsinnig war es schon von Mika Kaurismäki, mitten im ersten Lockdown einen Corona-Film zu machen. Im November 2020 hatte er beim Talliner Filmfestival Premiere. Aber wer würde, wenn alles vorbei ist, noch Corona-Filme sehen wollen? Anfang 2022 ist nichts vorbei, und so ist „Eine Nacht in Helsinki“ durchaus sein Kommentar zur aktuellen Lage, vielleicht gar Kaurismäkis brüderliche Botschaft an alle coronagebeutelten Café-, Restaurant- und Barbesitzer. Denn sein Film spielt in einer geschlossenen Bar namens Corona, und zwar in seiner eigenen. Bruder Aki ist der Mitbetreiber.

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Im Film heißt der Besitzer Heikki (kompakter Gastronom: Pertti Sveholm), und natürlich darf er mitten im Lockdown keinen reinlassen. Ob er selbst das uneingeschränkte Recht hat, sich in seiner Bar aufzuhalten, noch dazu in der Pose des Gastes, am gedeckten Tisch bei Kerzenlicht und mit einem Glas Wein in der Hand, ist in den Vorschriften wohl nicht eindeutig geregelt.

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Kein Wunder, dass Risto (Kari Heiskanen) bald vor der Tür steht, angelockt vom Licht. Ihm geht es wie allen: Das einzige, das in diesem Lockdown noch hilft, ist eine volle Bar und das nahe Gespräch mit Freunden. Zumal sich der Mediziner Risto noch in seinem ganz privaten Lockdown befindet, anders lässt sich seine Ehe nicht beschreiben. Und nun hat er auch noch eine junge Patientin verloren, fast noch ein Mädchen. Da gerät das Corona-Reglement des Barmanns ins Wanken. Ausschenken dürfe er zwar nichts, aber vielleicht könne er den Freund ja auf ein Glas Wein einladen, gewissermaßen im Vorübergehen.

(In den Berliner Kinos B-Ware!, Bundesplatz, Passage)

Letzteres erweist sich schnell als Illusion. Man kann nicht jedem zu jeder Zeit alles sagen. Es sei denn, Ort und Umstände helfen. Ursprünglich wollte Kaurismäki drei Männer durch puren Zufall in Dubai aufeinandertreffen lassen, was Corona verhinderte. Aber ist Helsinki im Lockdown nicht ein ebenso entlegener, allerfernster Ort? Und Klaustrophobie ist nun einmal Kaurismäkis Thema. Es gab kein Drehbuch, denn ein großes, befreiendes Gespräch sollte seine Dynamik aus sich selbst erzeugen.

Drei Spieler. Dass der Fremde, der plötzlich vorm Tresen steht, bestimmt der Mörder ist, von dem sie im Radio berichtet haben, wird Heikki schnell zur Gewissheit. Und sie sprechen sich immer tiefer in die Nacht hinein, denn Gewalttäter, gerade wenn sie keine Profis sind, zeigen mitunter ein erhöhtes Mitteilungsbedürfnis. Außerdem ist es eine oft übersehene Eigenschaft des Coronavirus, jeden mit dem zu infizieren, was ohnehin schon schief lief im eigenen Leben. Kaurismäki erweist sich wiederum als Spezialist für suggestive Innenraumbeleuchtung, und der Zuschauer hat nach der „Nacht in Helsinki“ ein Gefühl, wie es nur nach langen, wirklich guten Gesprächen plötzlich da sein kann.

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