zum Hauptinhalt
Werfe drei Münzen. Sheila Heti tritt am 21. März um 19.30 Uhr im Berliner Literaturhaus auf.

© Angela Lewis/Rowohlt

Eine radikale Frage: Sheila Heti fragt nach den Gründen für und gegen „Mutterschaft“

Die kanadische Erzählerin setzt sich in ihrem Roman mit der Frage auseinander, die jede Frau kennt: "Will ich ein Kind?"

Ihre Ich-Erzählerin kämpft mit einem Dämon. Wie Sheila Heti selbst ist sie eine Frau von Ende dreißig und lebt als Schriftstellerin in Toronto. Und wie Heti ist sie die Tochter ungarischer Einwanderer, von Juden, deren Großeltern den Holocaust überlebt haben.

Will sie ein Kind? Das ist die Frage, die die Erzählerin von Hetis siebtem Buch „Mutterschaft“ umtreibt. Sie stammt, wie wir überdies erfahren, aus einer Linie gebildeter Frauen, die alle Kinder bekamen, das Glück der Arbeit aber über das Mutterglück stellten oder es ihm zumindest gleichsetzten.

"Wenig Übung darin, über mich selbst nachzudenken"

Mit ihrer Frage ähnelt die Erzählerin zugleich Millionen anderer Frauen, die einen relativ einfachen Zugang zu Empfängnisverhütung und Abreibung haben. Die die biologische Uhr zwar ticken hören, sich aber entscheiden können, kein Kind zu bekommen. Das macht alles kompliziert.

Auf über 300 Seiten des Blicks nach innen verdeutlicht sie, an wie vielen Punkten diese Wahl hängt. „Ich habe so wenig Übung darin, über die Seele der Zeit nachzudenken, und so viel Übung darin, über mich selbst nachzudenken“, sagt die Erzählerin. Darum schreibt sie. Die Reflexionen werden dabei immer wieder von Alltagsszenen unterbrochen.

Die Erzählerin führt den Leser zu den Entscheidungsfaktoren. Der Familiengeschichte, Gesprächen mit Freundinnen, die gerade schon ein Kind bekommen haben, Gesprächen mit Männern, die ihr kinderloses Dasein bereuen. Wie Gewichte lasten sie auf der einen oder anderen Waagschale. Leer sind die Schalen nie.

Sie glaubt weder an Gott noch an ungeschriebene Gesetze, die aus ihr, einer fruchtbaren Frau, eine Mutter machen wollen. Es ist ihrem Körper egal, ob sie ein Kind bekommt oder nicht. Es ist ihrem Freund Miles, mit dem sie zusammenlebt, egal. Er hat schon eine Tochter aus einer früheren Beziehung. Auch ihrer Mutter ist es egal. Die Erzählerin erinnert sich an zahllose Tränen; daran, dass der Vater sich viel um die Kindererziehung kümmerte.

Ein 3000 Jahre altes Orakel hilft

In ihrer Entscheidungsfindung lässt sie sich von einer vereinfachten Form des uralten chinesischen Orakels „I Ging“ leiten. Vor über 3000 Jahren nutzten Könige für schwierige Entscheidungen diese Art der Weissagung. Sie warfen sechsmal drei Münzen, 64 mögliche Hexagramme konnten entstehen. Deren Bedeutung wurde durch den hochpoetischen, stark auslegungsbedürftigen Text des „Buchs der Wandlungen“ erläutert.

Die Erzählerin wirft drei Münzen und deutet, je nach Ausgang, die Antworten als Ja oder Nein. Zufällig und verlässlich leiten sie ihren Gedankenprozess. Daran kann sie sich festhalten. Je länger das Orakel sie in ihrer Entscheidungsfindung begleitet, desto interaktiver wird der Dialog zwischen Mensch und Münze. Die Fragen kreisen irgendwann nicht mehr nur um den eigenen Gemütszustand, sondern auch um den der Münzen. Ein Interview im Tagebuchformat.

Verfremdung des Ichs

Das Interview ist Hetis Metier. Sie führte Gespräche für das literarische US-Magazin „The Believer“. Auch in ihrem fünften Buch „Wie sollten wir sein?“ spielen Interviews die Hauptrolle: Heti transkribierte stundenlange Gespräche mit Freunden. Die Fiktionalisierung des eigenen Ich probte Heti in diesem Buch zum ersten Mal. Die Gesprächspartnerinnen hießen Sheila oder, wie ihre Freundin, Margaux. Dennoch bestand Heti darauf, die Charaktere im Roman mit den realen Personen nicht gleichzusetzen.

„Mutterschaft“ folgt dieser Tradition. Heti merkt an, dass sie alle Fragen an das Orakel tatsächlich so gestellt hat und die Antworten wahrheitsgemäß abbildet. Die Erzählerin könnte eine beliebige Frau Ende dreißig sein, die seit dem Tag, an dem sie ihre Periode zum ersten Mal bekam, bis zur Menopause über das Kinderkriegen nachdenkt.

Die Autorin stellt die Frage nach der "Mutterschaft" radikal neu.
Die Autorin stellt die Frage nach der "Mutterschaft" radikal neu.

© Rowohlt

Die Frage wird radikal neu gestellt

„PMS“, „Blutung“, „Eisprung“, die Kapitelnamen bilden die einzelnen Phasen der Periode ab. Alltag für Frauen in „diesen dreißig Jahren – von vierzehn bis vierundvierzig“, schreibt Heti. In denen müsse „alles erledigt werden im Leben einer Frau“.

Fragen, die traditionell Frauen betreffen, philosophisch auf den Grund zu gehen und sie aus einer ungewohnten Richtung zu betrachten, hat Heti schon mit ihrem Band „Frauen und Kleider“ versucht, den sie gemeinsam mit Leanne Shapton und Heidi Julavits herausgab. 500 Frauen aus aller Welt sprechen darin über Rituale, Familiengeschichten, Identitäten – und Mode.

Auch wenn es um die große Frage der Mutterschaft geht, ergründet in zahlreichen Romanen, Autobiografien und Selbsthilfebänden, geht Heti mit ihrem neuen Roman einen neuen, tieferen Weg. Die Protagonistin urteilt nicht darüber, ob es nun dem Individuum oder der Welt guttut, wenn eine Frau Kinder gebärt. Sie bereut die Mutterschaft nicht, da sie keine Kinder hat, und begrüßt sie nicht. Es geht ihr nicht um Umweltfolgen oder gesellschaftliches Fortbestehen.

Heti geht es um die freie Entscheidung. Sie stellt die für Frauen alltägliche Frage „Will ich ein Kind?“, und sie stellt sie radikal. Indem sie sich mit jedem einzelnen Gewicht auf der Waagschale auseinandersetzt, trennt sie sich von diesen – bis sie schließlich befreit ihrem wahren Dämon gegenübersteht.

Sheila Heti: Mutterschaft. Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Überhoff. Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 320 Seiten, 22 €.

Zur Startseite