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Judaskuss, hier dargestellt auf einem Altarbild in der Kirche des Heiligen Matthäus in Stitar, Kroatien.

© IMAGO/Panthermedia

Eine Sache für zwei: Kulturgeschichte des Küssens

Der Kommunikationswissenschaftler Hektor Haarkötter verfolgt eine keineswegs selbstverständliche Praxis vom Judaskuss bis zu Britney Spears.

Stand:

Küssen? Küssen! Kann man darüber wirklich ein ganzes Buch schreiben? Hektor Haarkötter kann es, schließlich hat er auch schon einen Wälzer über Notizzettel verfasst. „Küssen“ ist eines jener Bücher, die das Vertraute ein wenig fremder machen, sodass man es auf neue Weise wahrnimmt oder vielleicht sogar überhaupt erst wahrnimmt. Alltägliche Praktiken wirken leicht so selbstverständlich, dass man sie für natürlich hält.

Aber Küssen ist keineswegs eine anthropologische Konstante. Es gibt „kissing areas“ und „non-kissing areas“, wie der Autor betont. Es gibt Epochen, die dem Küssen zugeneigter waren als andere, etwa die Romantik im Kontrast zur Aufklärung. Es gibt säkulare und religiöse Riten unterschiedlicher Kusspraktiken. Es gibt faszinierende Differenzierungsversuche in Hinsicht auf die Akustik, die Haptik und das Maß an Feuchtigkeit.

Der erste Kuss

Es gibt sogar eine Unterscheidung zwischen dem ersten Kuss und allen anderen. Sie stammt vom dänischen Philosophen Søren Kierkegaard: „Man kann den Kuss nach der Art der Berührung einteilen in den tangierenden Kuss oder den Kuss en passant und den kohärierenden. – Man kann ihn einteilen nach der Zeit in den kurzen und den langen. Nach der Zeit gibt es auch noch eine andere Einteilung, und diese ist eigentlich die Einzige, die mir zugesagt hat. Man macht dabei einen Unterschied zwischen dem ersten Kuss und allen anderen.“

Eine aparte Idee, wie immer man den ersten Kuss ansetzt: ob auf die Haut des Neugeborenen als ersten Kuss überhaupt (daran dürfte Kierkegaard nicht gedacht haben), oder als den ersten romantischen Kuss, der das Feld der Liebe eröffnet.

Hektor Haarkötter ist Kommunikationswissenschaftler.

© Copyright: Werner Siess, honorarfrei

Hektor Haarkötters munteres Mäandern durch die „Labyrinthe“ des Küssens verbindet die Vorzüge der Systematik mit den Vorteilen spielerischen Wagemuts. Manchmal wird das auch ein wenig läppisch, etwa wenn der Bonner Professor für Kommunikationswissenschaft die Resonanz-Theorie des in Jena lehrenden Soziologen Hartmut Rosa mit einer Nebenbemerkung aus dem Feld zu schlagen versucht. Empirische Belege für die Behauptung, die Bedeutung des Küssens schwinde im „Digizän“, bleibt er schuldig.

Küssen ist Kommunikation

Seine Ausgangshypothese aber, das Küssen als „berührende Kommunikationsart“ zu verstehen, führt zu wertvollen Einsichten. Die ausgestülpte Schleimhaut der menschlichen Lippen im Zusammenspiel mit einer Vielzahl von Muskeln hat zu einer Kulturpraktik geführt, die „oral“, aber nicht „verbal“ ist. Das Küssen von Angesicht zu Angesicht in der Symmetrie einer nicht hierarchischen Praktik, in der die Geschlechterdifferenz keine Rolle spielt, ist das Zentrum seiner Darstellung.

Anders als Sex könne man Küsse nicht erzwingen. Ein Kuss sei „weich“, er verspreche „Intimität“ und „Süßigkeit“, so wie im Französischen von „le doux baiser“ die Rede sei. Die sogenannte „Kuss-Affäre“ um Luis Rubiales räumt er mit dem Argument aus, was der damalige Präsident des spanischen Fußballverbands der Spielerin Jennifer Hermoso auf den Mund gedrückt habe, sei gar kein Kuss gewesen. Das kann man durchaus so sehen. Eine übergriffige Geste der Dominanz, keine „Zuneigungsgeste“.

Nach dem Sieg der spanischen Nationalmannschaft küsst Kapitänin Jenni Hermoso den Siegerinnenpokal. Wenig später wird Luis Rubiales sie belästigen.

© IMAGO/Bildbyran

Den berühmten Kuss, den Madonna Britney Spears vor mehr als zwanzig Jahren gegeben hat, lässt sich Haarkötter in seinem Pop-Kapitel leider entgehen. Schaut man sich die Szene noch einmal an, könnte sie ein Musterbeispiel für seine Unterscheidung sein. Tatsächlich hat Britney Spears ihren Mund bereits geöffnet, als Madonnas Lippen dort landen. Wenn hier Macht demonstriert wird, dann ist es die performative Unabhängigkeit weiblicher Erotik. Dass Christina Aguilera in der Ikonografie dieses Kusses unterging, wäre eine starke Bestätigung seiner These: Der „romantische“ – und erotische - Kuss ist eine Sache für zwei.

Von Judaskuss bis Social Distancing

Von der Antike bis zur Gegenwart, von der Philosophie über Malerei und Literatur bis zum Kino skizziert Haarkötter die Entwicklung. Der sozialistische Bruderkuss findet ebenso Erwähnung wie der Judaskuss.

Doch das Herz des Autors schlägt für die intime Zweiheit. Gerne würde er den altgriechischen Numerus Dual neben Singular und Plural wiederbeleben. Dass man ständig als das „Du“ des zum „Ich“ des Autors gehörenden Kommunikationsvorgangs angesprochen wird, ist ein - vielleicht etwas überdeutliches - Signal dieser Auffassung. Das Kunstwort „Dualog“, soll den „bilingualen“ und zugleich nonverbalen Aspekt des Küssens betonen.

Wahrscheinlich stimmt die Überlegung des französischen Philosophen und Komplexitätstheoretikers Edgar Morin, der Kuss sei „das triumphale Symbol für die Rolle des Gesichts und der Seele in der Liebe des 20. Jahrhunderts.“ Ob Küssen wirklich an Bedeutung verliert, ist noch offen. Unplausibel ist es nicht, wenn man die Praktiken des Social Distancing bedenkt, die während der Covid-Pandemie eingeübt wurden. Hektor Haarkötter nennt sein Buch eine „Elegie“, also eine wehmütige Klage. Man kann es aber auch als Beobachtungsinstrument nutzen.

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