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Sieg in Norwegen. Nadia Comaneci 1975 als 13-Jährige in Skien.

© AFP

Lola Lafon: "Die kleine Kommunistin": Eine Unmöglichkeit namens Nadia

Lola Lafon verwandelt das Leben von Rumäniens berühmtester Kunstturnerin in einen Roman - und vermischt dabei Dokumentation und Fiktion.

Auf gerade einmal 140 Metern schlängelt sich die schmale Rue Séguier durch das sechste Pariser Arrondissement, unweit der Seine und der Kathedrale Notre-Dame. Es handelt sich um eine der ältesten Straßen der Stadt, in der einst Edgar Allan Poe – ohne je vor Ort gewesen zu sein – seine Kriminalgeschichte „Das Geheimnis der Marie Rogêt“ (1842) ansiedelte. Hier hat auch der Verlag Actes Sud seinen Pariser Sitz, in dem Lola Lafons vierter Roman „Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte“ ursprünglich erschienen ist – ein Bestseller in Frankreich.

Lola Lafon, die auch als Musikerin und Performance-Künstlerin auftritt, wuchs in Sofia, Bukarest und Paris auf. Ihr Vater, ein Franzose, lehrte als Professor an rumänischen Universitäten. Dadurch erlebte sie als Kind den Alltag unter der Ceausescu-Diktatur und erinnerte sich stets an den einen magischen oder ikonischen Augenblick, wie sie sagt: An den 18. Juli 1976, als die 14-jährige Rumänin Nadia Comaneci bei den olympischen Sommerspielen von Montreal als erste Kunstturnerin die Höchstnote 10 erreichte. Die Anzeigetafel versagte ihren Dienst und gab stattdessen die Note 1,0 an. Diesen Moment nimmt Lola Lafon zum Ausgangspunkt für ihre fiktive Biografie über Nadia Comaneci, für die sie und ihre hervorragende Übersetzerin Elsbeth Ranke unzählige fantasievolle Metaphern finden: „Magnesium-Jungfrau von Orléans“, „biomechanische Unmöglichkeit“, „Roboter und Polarprinzessin“ oder „kleine Karpatenfee“. Das Publikum war „gierig nach ihrem Akzent und der Bewegung, mit der sie das Gummi an ihrem Pferdeschwanz nachzog, und ihr fast leerer Blick, bevor sie loslegte, ein unkaputtbares Spielzeug, immer in Form!“

Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte.
Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte.

© Piper Verlag

"Hass auf den weiblichen Körper"

Von Anfang an sei sie auf ambivalente Reaktionen gegenüber Nadia Comaneci gestoßen, sagt Lola Lafon: „Als ich anfing zu recherchieren, entdeckte ich in französischen Zeitungen beinahe pädophile Beschreibungen von ihr, was mich sehr schockiert hat. Und andererseits diese Gegenreaktion, ein wirklicher Hass auf den weiblichen Körper ab dem Moment, als sie sich in eine Frau verwandelt.“ Eine französische Zeitung schrieb: „Das Mädchen mausert sich zur Frau und die Magie ist verflogen.“ Das brachte Lafon dazu, sich für die Haltung gegenüber dem weiblichen Körper zu interessieren.

Der Roman zeichnet Nadia Comanecis Werdegang von 1969, als ihr Talent in der Grundschule von Onesti entdeckt wird, bis 1990 nach – zu diesem Zeitpunkt lebte sie nach ihrer Flucht aus Rumänien bereits in den USA. Lola Lafon betrachtet diese Zeitspanne als einen „stummen Film“, dem sie eine Stimme geben wollte. Deshalb hat sie das Gegenteil einer klassischen Biografie geschrieben. Vielmehr schaltet sich eine fiktive Nadia Comaneci mit Kritik und Einwürfen in den Erzählfluss ein. Auf diese Weise entsteht ein lebendiges, unkonventionelles Prosagebilde ganz eigener Art: „Ich hatte große Lust, eine neue Erzählform zu erproben“, erläutert die Autorin: „Meine ersten drei Romane sind aus der Ich-Perspektive geschrieben, und jetzt sollte es in der dritten Person um einen anderen Körper gehen. Für mich war klar, dass es eine reine Fiktion sein sollte. Vielleicht klingt es etwas prätentiös, wenn ich sage, dass mir ein Buch im Stil des 18. Jahrhunderts vorschwebte, aber ich wollte einen Roman im Roman schaffen, der die Wirklichkeit examiniert. Ich wollte herausfinden, ob die Dokumentation Teil der Fiktion werden kann.“

Lola Lafon zieht raffinierte Parallelen

Wem gehörte der Körper der berühmten Kunstturnerin und „Heldin der sozialistischen Arbeit“, die in den achtziger Jahren immer mehr zur öffentlichen Frau wurde? Gehörte er der Diktatur, die sich für die notleidende Bevölkerung stetig verschlimmerte, parallel zu Nadias ungewollter Pubertät? Raffiniert setzt Lafon den ständigen Hunger des ausgemergelten Mädchens, das unter der Fuchtel sowohl seines zwiespältigen Trainerpaares Béla und Márta (das sich in die USA absetzte) als auch der Öffentlichkeit stand, in Beziehung zur politischen Entwicklung. Denn als die Bevölkerung in ungeheizten Wohnungen darbte, als der „Hungerzirkus“ zum Dauerzustand wurde und die „Menstruationspolizei“ die Fruchtbarkeit aller Rumäninnen zwischen 18 und 40 überprüfte, stellte Nadia Comaneci auf fast schon gespenstische Weise den Körper des Regimes dar. Das Buch dichtet ihr gar eine Beziehung zu Ceausescus Sohn Nicu an, der als Jugendminister von ihr besessen gewesen sei.

Lola Lafon sagt, es sei die Aufgabe der Fiktion, Fragen zu stellen, nicht Antworten zu geben. „The incredible Nadia“, die sich in Oklahoma weiterhin täglich mit Gymnastik fit hält, hat bisher noch nicht auf den Roman reagiert: Vielleicht wartet sie ja die Übersetzung ins Rumänische ab oder meint nach wie vor, sie habe doch nur ihre Pflicht erfüllt. Indem sich die fiktive Biografie mit artistischer Brillanz und Kühnheit von ihrem Gegenstand entfernt, kommt sie dem Mythos Nadia Comaneci ganz nah.

Lola Lafon: Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte. Roman. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Piper Verlag, München 2014. 280 Seiten, 19,99 €.

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