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Ava (Noée Abita) und ihr Hund Lupo

© Eksytent

Léa Mysius Debütfilm „Ava“ im Kino: Eines Mädchens Reise in die lange Nacht

Film der Kontraste: Léa Mysius erzählt in ihrem Regiedebüt „Ava“ vom unerschrockenen Kampf einer 13-Jährigen gegen das Erblinden.

Wenn die These der Filmkritikerin Frieda Grafe, dass die Farbe im Kino vom Erzählen verdrängt wurde, heute noch annähernd Gültigkeit hat, dann stellt „Ava“ die wohl verwegenste Rückkehr seit Langem dar. Schon die erste Einstellung, ein an die Strandfotografien Martin Parrs erinnerndes Wimmelbild aus grellbunten Sonnenschirmen, gebräunten Körpern und wasserblauem Hintergrund, lässt einem die Augen übergehen. Die Farben in „Ava“ sind leuchtend, flächig und haben die Signalhaftigkeit von Kunststoff und Süßigkeiten. Dabei sind sie kein der Erzählung äußerliches Stilmittel, sondern führen mitten in ihren Kern hinein.

Schließlich erzählt Léa Mysius’ Debutfilm von dem unaufhaltsamen Sehverlust einer 13-Jährigen, die der näherrückenden Blindheit mit der Unverfrorenheit einer Kriegerin entgegentritt. Es liegt etwas Unbändiges, Maßloses in der übersteuerten Farbigkeit von „Ava“ – und der Rausch eines opulenten Abschiedsfests. Denn das pubertierende Mädchen fürchtet nichts mehr, als in ihrem Leben nur das Hässliche gesehen zu haben. „Ich will die Erinnerung retten“, erklärt Ava aus dem Off.

Alles an der Mutter ist Ava zuwider

Der Film beginnt mit der Entspanntheit eines naturalistischen Sommerfilms. Ava (Noée Abita) verbringt mit ihrer alleinerziehenden Mutter Maude (Laure Calamy) und ihrer kleinen Halbschwester den Sommer an der Atlantikküste. Ein schwarzer Hund, der sich aus dem Eröffnungsbild auf den Weg gemacht hat, findet die Protagonistin an einer Betonzunge liegend: das Gesicht in die Sonne gestreckt, Beine im Wasser, die Pommes auf dem Badeanzug abgestellt. Der Hund, dessen Fell so tiefschwarz ist, dass jede Zeichnung seines Körpers verschwindet, ist eine Meta-Figur. Als Bote führt er die Charaktere zusammen, als Vorbote kündigt er die Dunkelheit an. Denn kurz darauf wird bei dem Mädchen eine Retinitis pigmentosa diagnostiziert. Eine Krankheit, bei der sich das Gesichtsfeld zu einem immer kleiner werdenden Kreis verengt, um den herum alles in Schwarz versinkt.

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Das auf die Nachricht folgende jämmerliche Geheule der Mutter ist Ava zuwider – so wie ihr alles an Maude zuwider ist: ihre intimen Geständnisse, ihre Promiskuität, ihr Körper, ihr Geruch. Ava sucht die Konfrontation mit ihrem Schicksal und beginnt sich abzuhärten. Sie führt Buch über ihre schwindende Sehkraft – „innerhalb von 5 Tagen 20 Minuten verloren“ – und trainiert das Gehen mit verbundenen Augen. Mit blutrotem Schal sieht man sie an der Kante des Hausdachs balancieren.

Noée Abita gibt ein stürmisches Leinwanddebüt

„Ava“ ist ein Film der Kontraste: Licht und Dunkelheit, Farbe und Schwarz, das letzte und das erste Mal. Avas Initiation, die natürlich auch eine Initiation der Sinne ist, verbindet Mysius mit einem sexuellen Erwachen. Lupo, der schwarze Hund, führt das Mädchen zu Juan (Juan Cano), einem Roma-Jungen, der nach einer böse endenden Eifersuchtsgeschichte in einem Bunker am Strand Zuflucht gefunden hat. „Sein Gesicht nicht zu sehen, hätte mich umgebracht“, schreibt Ava in ihr Tagebuch. In einer Szene räumt das wilde Gespann in der Tarnung indigener Krieger den Urlaubern am FKK-Strand ihre Kühltaschen aus. „She ain’t no child no more“, singt dazu Sharon Jones. Nach und nach verlässt der Film seinen realistischen Boden, um sich immer heftiger ins Genrekino zu stürzen: Märchen, Surrealismus, Abenteuerstory, Liebende auf der Flucht.

Die Verbindung von Sehverlust, Sensualität und Sex mag gefährlich nach Kitsch klingen. Doch Mysius’ Idee von Sinnlichkeit ist dafür viel zu roh. Die 35mm-Bilder des Kameramanns Paul Guilhaume sind so körnig wie der Sand, und auf der Tonspur reiben, kratzen und schmirgeln die Streicher der uruguayischen Komponistin Florencia Di Concilio. Getragen wird „Ava“ aber vor allem von Noée Abita, die hier ihr stürmisch-widerborstiges Leinwanddebüt gibt. Mit spielerischer Leichtigkeit und ohne Rücksicht auf Glaubwürdigkeit lässt sich der Film von seiner Heldin bei ihrer Erinnerungsrettung affizieren - und wir mit ihr. Es bleibt nicht viel Zeit bis das Licht erlischt.

In den Kinos B-Ware!, Brotfabrik, Bundesplatz, Filmrauschpalast, FSK, Hackesche Höfe, Il Kino, Wolf, Zukunft (alle OmU), dt. Fassung: Acud, Bundesplatz

Esther Buss

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