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Als wäre nichts passiert. Die Mutter (Tilda Swinton) und der Vater (Michael Shannon) haben auch nach der Apokalypse noch Grund zum Feiern.

© Felix Dickinson/Neon

Endzeit-Musical „The End“ im Kino: Traurige Lieder aus dem Luxusbunker

In Joshua Oppenheimers Anti-Musical „The End“ hat sich eine Familie in der apokalyptischen Zukunft eingerichtet. Seine Satire über die menschliche Verdrängungsleistung passt in unsere Zeit.

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Tief unten im Bunker scheint die Welt noch in Ordnung, zumindest auf den paar Quadratmetern, die wie eine Studiokulisse in das stillgelegte Salzbergwerk gebaut wurden. Die Welt draußen ist seit einem Vierteljahrhundert still gelegt. Manchmal öffnet sich der Blick an diesem klaustrophobischen Ort durch eine offene Tür in die dunkle Höhle dahinter.

Was mit der Welt geschehen ist, belässt der Dokumentarfilmer Joshua Oppenheimer in seinem Spielfilmdebüt „The End“ im Vagen, aber das Schicksal der Menschheit ist so unwiederbringlich, dass die Menschen sich in Rituale flüchten, um nicht über die Realität nachdenken zu müssen.

Mit der orchestralen Eloge „A Perfect Morning“, gesungen von George McKay in stimmlichen Registern, deren Brüchigkeit schon auf die Risse in dieser wenig tröstlichen Illusion hindeutet, beginnt Oppenheimers Musical über das Ende der Welt. Wäre er ein Kätzchen, würde er schnurren, singt der Sohn (keine der Figuren in „The End“ hat einen Namen).

Die Suggestion dieser Eröffnungssequenz imitiert die eskapistischen Qualitäten klassischer MGM-Musicals, in denen Gesangs- und Tanzeinlagen die realen Konflikte überwinden. Der unerschütterliche Optimismus in McKays Stimme zeugt von einer Unschuld, die seine Eltern nicht für sich in Anspruch nehmen können.

Die Ölindustrie ist ein Segen für die Menschheit

Tilda Swinton und Michael Shannon spielen ein obszön reiches Ehepaar, das seit 25 Jahren mit dem Sohn (George MacKay), der nur das Leben im Bunker kennt, mit dem Hausarzt, der Köchin und einem Butler in dem Salzbergwerk lebt. Sie haben die unterirdischen Katakomben in ein Luxusdomizil verwandelt, dort geht das Leben weiter, als sei nichts passiert.

Die Mutter arrangiert im Wohnzimmer aus Langeweile die alten Meister (darunter Renoirs „Ballettänzerin“) an der Wand neu, Weihnachten wird der Baum geschmückt. Gelegentlich pumpt das Belüftungssystem durch herumliegende Schläuche Frischluft in die Gänge, die regelmäßigen Notfallübungen sind eine absurde Choreografie – und nicht die einzige im Film.

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Die Welt ist zerstört, mutmaßlich durch eine Umweltkatastrophe, was die Isolation zu einer Frage des Überlebens macht. Wer weiß, welche Gefahren da draußen lauern? Außer den gelegentlichen Feuersbrünsten, wohlgemerkt. Der Vater hat in der Ölindustrie gearbeitet, in einem Ordner sammelt er Zeitungsausschnitte aus einer früheren Zeit: Zeugnisse seines Wirkens auf dem ehemals blauen Planeten.

Ein kritischer Artikel, versehentlich dazwischen geraten, ruft für einen kurzen Moment Irritation in diesem geschlossenen Weltbild hervor. „Wir werden nie erfahren, ob unsere Industrie zum Temperaturanstieg beigetragen hat“, sagt er einmal zum Sohn. Das Foto eines weinenden afrikanischen Kindes wird kurzerhand zu einem Beleg für die wohltätige Arbeit der Ölbranche umgedeutet, die der Menschheit Wohlstand brachte.

Oppenheimer hat schon mit seinen Dokumentarfilmen über die Auftragsmörder der indonesischen Todesschwadronen unter dem Diktator Suharto eine eigenwillige Form gefunden, mithilfe von Re-Inszenierungen die moralischen Abgründe des Menschen freizulegen. In „The Act of Killing“ von 2013 lässt er die Täter, die nie verurteilt wurden, ihre eigene Version des indonesischen Schreckensregimes zwischen 1967 und 1998 erzählen.

Einer seiner Protagonisten wählt für seine Performance das Genre des amerikanischen Gangsterfilms, deren Antihelden ihm als Inspiration für seine Untaten dienten. Oppenheimer überblendete mit diesem Experiment und dem Nachfolger „The Look of Silence“ die Grenzen von Dokumentarfilm und Inszenierung – fand allerdings auch keine Distanz zum Enthusiasmus aus der Täterperspektive.

Das Musical verdrängt die Realität

Unter fiktionalen Bedingungen ist die Komplizenschaft in einer solchen cautionary tale, wie es im Englischen heißt, weniger problematisch. Die erzählerischen Mittel sind in „The End“ dieselben, die Inszenierung erfüllt aber einen anderen Zweck. Während im klassischen Musical Gesang und Tanz eine Tür in die Figurenpsychologie öffnen, die Künstlichkeit die wahren Bedürfnisse der Figuren also abstrahiert (und buchstäblich auch eine größere Bühne bietet), können die spröden Musicalnummern in „The End“ den klaustrophobischen Räumen nicht entkommen.

Das beklemmende Kammerspiel überhöht die Realität nicht, die Lieder überspielen diese vielmehr. Was fehlt, ist die Reflexionsebene. Oppenheimer hat die Hollywood-Klassiker genau studiert und macht dann das Gegenteil: ein bis zu den ungelenken Tanzschritten und sich überschlagenden Singstimmen virtuoses Anti-Musical.

Tilda Swinton ist wie immer großartig als Mutter, die mit bewundernswerter Contenance die katastrophale Realität ausblendet.

© Mubi/Felix Dickinson

Gefahr droht von außen, aber nicht von vermeintlichen marodierenden Horden, die der Familie ihre Essensvorräte neiden. Als sie eine junge Frau vor dem Familienbunker vorfinden, sehen die Eltern die von ihnen sorgfältig aufrechterhaltene Ordnung bedroht. Vor allem, weil das Mädchen (Moses Ingram) nicht die Verdrängungsmechanismen entwickelt hat, die das sorglose Weiterleben überhaupt erst möglich macht.

Ingram bringt in ihren Songs eine unverstellte emotionale Rohheit in dem ansonsten antiseptischen musikalischen Repertoire zum Ausdruck – vor allem in den Duetten mit McKays apathischem Sohn, der die Erzählungen seiner Eltern langsam zu hinterfragen beginnt. Zum Beispiel, was mit den anderen Menschen auf den Familienfotos geschehen ist.

Die Mutter blendet mit bewundernswerter Contenance die katastrophale Realität aus (eine Paraderolle für Swinton), der Vater diktiert dem Sohn seine subjektiv gefärbten Erinnerungen für die geplanten Memoiren in die Feder. Wenn Shannon in Frack und Pork-Pie-Hütchen tanzt, ist es zwischen Clown und Tyrann immer nur ein kleiner Schritt.

Das Mädchen bedroht diesen apokalyptischen Verblendungszusammenhang schon durch ihre bloße Existenz. Sie ist zum einen der Beweis, dass 25 Jahre nach der Apokalypse andere Menschen überlebt haben. Außerdem verfügt sie noch über ein Schuldbewusstsein, wie es bei Überlebenden von Katastrophen oft der Fall ist. Seine Gefühle teilt das Mädchen aber ausgerechnet am feierlich gedeckten Tisch.

Wie in seinen Dokumentarfilmen interessiert sich Oppenheimer für Verdrängungsmechanismen, die der Mensch als Schutzfunktion um sich errichtet. Eine durchaus zeitgemäße Parabel, schließlich ist eine Umweltkatastrophe ein realistisches Szenario. Doch weil in „The End“ niemand die Schuldfrage stellt, bleiben die Rituale reiner Selbstzweck. Der Film findet nicht aus dieser Endlosschleife heraus, so wie sich auch die Kamera immer wieder in Kreisbewegungen die Räume durchfährt. Jeder Weg aus den Kulissen heraus führt unweigerlich zurück in die Simulation eines Lebens.

Am Ende ist auch „The End“ nicht mehr als ein Sozial-Experiment mit einer vorhersehbaren Moral – wie bei so vielen Neureichen-Satiren der jüngeren Zeit, von „Triangle of Sadness“ bis „White Lotus“. Wenn sich die Kamera langsam entfernt, werden die Grenzen der Kinofantasie sichtbar, buchstäblich. Und die Menschen starren in verzweifelter Hoffnung in ein schwarzes Loch. Ihnen sind die Lieder ausgegangen.

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