
© Pandora Film / QuimVives
Endzeitdrama „Sirât“ im Kino: Der Wüstenrave zum Weltuntergang
Kann man die Apokalypse tanzen? Das preisgekrönte Drama „Sirât“ findet hypnotische Bilder für ein existenzielles Freiheitsgefühl – vor dem Hintergrund einer globalen Katastrophe.
Stand:
Weitab der Zivilisation löst sich die Endzeit-Party in einem euphorisch-zugedröhnten Wimmelbild aus sich in Trance dahintreibenden Körpern und einem Basswummern auf, das den Wüstensand zum Vibrieren bringen. Die Wüste kennt keine Grenzen – was sich natürlich schon bald als Trugschluss erweist.
Das Atlasgebirge, das sich hinter der gewaltigen Bassboxenwand erhebt, markiert in der Realität der spanischen Techno-Nomaden auf der Suche nach dem nächsten Rave auch nicht den geografischen Übergang zwischen zwei Klimazonen. Es ist bloß ein natürlicher Verstärker, der die treibenden Technobeats auf die Feiernden zurückwirft.
„Sirât“, den dritten Langfilm des französischen Regisseurs Óliver Laxe, muss man zunächst unbedingt vom Zustand des Rauschs her erfahren, der durchaus auch im Kino wirkt. Ein existenzielles Freiheitsgefühl liegt in den Bildern von Maruo Herce, aufgenommen mit 16-mm-Filmmaterial in der Wüste.
Die körnige Haptik maseriert die Ledrigkeit der von der Sonne gegerbten Gesichter und die mit Staub gesprenkelten Körper, die sich selbstvergessen im minimalistischen Rhythmus der Musik von Kangding Ray wiegen.
Eine Gruppe Europäer in einem idealisierten Wüstenparadies
Eine ethnografische Perspektive auf eine von der Welt entrückte Community tut sich auf, die nach ihren eigenen Regeln lebt und mit umgebauten Trucks durch die Wüste brettert. Nur hat sich der Blickwinkel verkehrt.
„Sirât“, den unter anderem Pedro Almodóvar produziert hat, handelt von einer Gruppe Europäer in einem idealisierten Paradies, in dem ausnahmsweise sie die „Anderen“ verkörpern.
Es ist bei aller Faszination – und Laxe verklärt die Wüste, anders als zum Beispiel Michelangelo Antonioni, in keinem Moment zu einer bewusstseinserweiternden Landschaft – ein harscher, wenig einladender Ort. Die Sonne brennt, Sandstürme toben, und die nächtliche Sintflut macht ein Weiterkommen unmöglich.
Schon der Titel sollte eine Warnung sein. Sirât heißt im Islam die schmale Brücke zwischen Hölle und Paradies: schmal wie ein Haar, scharf wie die Klinge eines Messers.
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Die Außenwelt durchdringt nur punktuell den Eskapismus dieser Nomadenbewegung. Der Ausbruch eines möglicherweise weltweiten Krieges treibt die Feiernden immer weiter in die Wüste, auch auf der Flucht vor den Soldaten – die die Europäer aus dem Land ausweisen wollen.
Aber dieses Europa ist weit weg, das muss auch der Familienvater Luis (Sergi López) erkennen, der sich mit seinem zwölfjährigen Sohn Esteban (Bruno Núñez) im nicht unbedingt wüstentauglichen Familienvan der Gruppe anschließt. Er sucht seine Tochter Marina, die vor Monaten der Partykarawane nach Marokko gefolgt ist.
Die Raver nehmen den Vater und seinen Sohn, die die althergebrachte gesellschaftliche Ordnung verkörpern, zunächst widerwillig in ihre Gemeinschaft auf.
So entsteht eine Art Ersatzfamilie, vor dem Hintergrund eines gravierenden Verlusts, der dem Film nach der Hälfte eine dramatische Wendung gibt, und einer ominösen geopolitischen Krise. Die beschwerliche Reise durch die Wüste schweißt zusammen.
Die Techno-Nomaden spielen sich selbst
Die indigenen Einwohner spielen in „Sirât“ keine große Rolle, sie treten aber in zwei entscheidenden Situationen in Erscheinung. Die existenzialistische Erfahrung, die die Techno-Nomaden in der Wüste suchen, ist für die Marokkaner der Normalzustand. Diese Exotisierung aus der privilegierten Perspektive jener, für die die „Flucht“ eine freie Willensentscheidung ist, steht in vermeintlicher Diskrepanz zu dem ethnografischen Blick auf das archaische Milieu der Aussteiger.
Die Raver Stefania Gadda, Joshua Liam Henderson, Tonin Janvier und Richard Bellamy spielen sich gewissermaßen selbst, ihre ausgezehrten, gepiercten, teilweise verkrüppelten Körper verfassen eine Physiognomie, die vom Tanzen unter der Wüstensonne gezeichnet ist. Durch diesen quasi-dokumentarischen Effekt nimmt Laxe aber eine wesentliche Differenzierung in der Wahrnehmung des afrikanischen Kontinents vor.
Erst in der letzten Einstellung, als sich die Party-Karawane längst als Todesmarsch entpuppt hat, werden die Marokkaner wieder sichtbar: als Massenornament, in das sich die Europäer – ebenfalls um ihre Individualität gebracht – als anonyme Gestalten eingliedern.

© Pandora Film / QuimVives
Diesen Prozess beschreibt Laxe als eine Folge mittlerer bis ultimativer Katastrophen, die im flirrenden Delirium der sehr sporadischen Handlung langsam Form annehmen. „Sirât“ geht es dabei nicht um eine Analyse des Verhältnisses von Europa und globalem Süden, dafür bleiben die realen Verhältnisse in dem Roadmovie zu weit außen vor.
Ähnlich wie Claire Denis in ihrem meditativen „Beau Travail“ über die Erfahrungen eines Fremdenlegionärs, der vom Krieg vergessen wurde, zirkulieren Laxe und Kameramann Herce um die Körper ihrer Protagonisten. Sie bewegt ein essentialistisches Interesse am Übergang von Endorphinrausch und Adrenalinausschüttung angesichts sehr plastischer Gewalterfahrungen.
Diese Brüche in „Sirât“ zu verraten, würde das Erlebnis des Filmes beeinträchtigen; im Grunde ist schon die Andeutung einer dramatischen Zuspitzung zu viel an Information über einen Film, der die Betrachtenden in eine Art Trance-Zustand zu versetzen versucht.
Dass die Gewalt am Ende die europäische „Kolonisatoren“ trifft, ist dabei mehr als bloß eine hinterhältige Pointe – auch wenn Laxe tatsächlich ein gutes Gespür für Hitchcock’sche Suspense und die Jump-Scares des Horrorkinos beweist. Denn die vermeintliche Abwesenheit des Krieges ist eben das Privileg einer westlichen Sichtweise: Von seinem Ende her betrachtet, ist die Gewalt von Beginn an in die Bilder von „Sirât“ eingeschrieben.

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Im Wettbewerb des diesjährigen Cannes-Filmfestivals war „Sirât“, der zusammen mit dem deutschen Beitrag „In die Sonne schauen“ den Preis der Jury erhielt, eine wohlkalkulierte Eskalation. Laxe ignoriert nicht nur die Konventionen des Erzählkinos, er führt auch recht drastisch die Grenzen unserer Empathie vor Augen.
Luis und Esteban sind in dieser Hinsicht lediglich Lockvögel. Sie verirren sich auf ein Terrain moralischer Fragen, das der Regisseur stets aus sicherer Distanz observiert. Ein Minenfeld, durch das der Film am Ende auch ganz buchstäblich führt.
Die moralische Überlegenheit, vielleicht auch eine gewisse Häme für die Europäer mit ihrem schlichten Traum von Freiheit, hat in ihrer konsequenten Umsetzung – wenn der Film vom Trance- in den Albtraummodus wechselt – durchaus etwas Spekulatives.
„Fühlt sich so das Ende der Welt an?“, fragt einmal einer der Protagonisten. Laxe hebt die sichere Perspektive erst mit der letzten Einstellung eines Zugs voller Geflüchteter auf. Noch so ein Affektbild.
Die Vehemenz, mit der „Sirât“ sein Publikum vor den Kopf stößt, hat andere Qualitäten als eine profunde Analyse. Sie zielt direkt auf die Eingeweide ab, die schließlich auf der Leinwand verteilt werden. Irgendwo darin schlägt auch ein Herz; und wenn es nur das Herz der Finsternis ist. „Sirât“ legt es frei.
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