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Harald Welzer, Soziologe und Publizist.

© ZDF und Lia Darjes/Lia Darjes

Update

Berichterstattung über den Ukrainekrieg: Historiker Koenen sieht Sternstunde, Soziologe Welzer „fast propagandistische Medienlandschaft“

Harald Welzer findet in der Empirie eine Bestätigung seiner mit Richard David Precht formulierten Thesen.

Die deutsche Berichterstattung über den Angriffskrieg auf die Ukraine ist nach Ansicht des Historikers und Russland-Experten Gerd Koenen eine Sternstunde der Medien. „Hier waren sie mal auf der Höhe des Ernstes der Zeit“, sagte er am Donnerstag auf der Leipziger Buchmesse. In vielen Talkshows werde sonst oft nicht ernsthaft diskutiert, sondern nur bloßes Infotainment mit einer „bequemen Ausgewogenheit“ betrieben.

Differenzierte Debatte

Als jedoch der russische Angriffskrieg im vergangenen Jahr begann, habe in den deutschen Medien eine sehr differenzierte und offene Debatte begonnen. Über die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ausgerufene Zeitenwende habe in der Presselandschaft ein ernstes und vorsichtiges Nachdenken eingesetzt.

 Hier waren sie mal auf der Höhe des Ernstes der Zeit

Gerd Koenen, Historiker

Dem widersprach der Publizist und Soziologe Harald Welzer. Er kritisierte, eine differenzierte journalistische Betrachtung weiche vor allen in Krisen immer einer Homogenisierung. In seinem Buch „Die vierte Gewalt“ wirft er gemeinsam mit dem Philosophen Richard David Precht den Leitmedien eine Meinungsmache vor, die ausblende, was nicht zur Mehrheitsmeinung gehöre. Welzer zufolge belegen seine Studien, dass etwa bei der Frage einer Lieferung von Kampfpanzern in die Ukraine eine „fast propagandistische Medienlandschaft“ zu beobachten gewesen sei, die Risiken eher ausgeblendet habe.

Journalistisches Versagen


In ihrem Sachbuch-Bestseller „Die vierte Gewalt“ stellten die Autoren Richard David Precht und Harald Welzer erhebliches Medienversagen fest, exemplifiziert an der Beobachtung, dass die wenigsten Journalisten und Publizisten Zweifel an der Notwendigkeit von Panzerlieferungen an die Ukraine äußerten. Dabei hätten sie ignoriert, dass die Überzeugungen der veröffentlichten und der öffentlichen Meinung in dieser Frage differierten. Wie merkwürdig, wo doch der journalistische Auftrag eigentlich nicht darin liege, anderen Menschen zu erklären, warum sie falscher Meinung seien.

Genuin, so hatte es Michael Haller dekretiert, sei die Aufgabe des Journalismus einmal anders definiert gewesen - nämlich die „in vielfältige Interessen differenzierte Gesellschaft abzubilden“. Das hat laut Precht/Welzer in der Frage der Panzerlieferungen nicht stattgefunden, vielmehr sei die Perspektive auf den Krieg vereinseitigt worden. Diese Behauptung führte zu einiger Aufregung, „zumal der empirische Beleg für diese These damals noch ausstand, wie nicht zu Unrecht moniert wurde“.

Dieses Eingeständnis findet sich in dem Artikel „Die veröffentlichte Meinung. Eine Inhaltsanalyse der deutschen Medienberichterstattung zum Ukrainekrieg“, publiziert im aktuellen Heft der „Neuen Rundschau“. In die Untersuchung flossen nicht weniger als 107.000 Texte ein, publiziert zwischen 1. Februar 2022 und dem 31. Januar 2023. Dazu kommen 1,1 Millionen Beiträge aus 140 Regionalzeitungen und 13,5 Millionen Twitter-Beiträge.

Nun könnte man feststellen, dass dieses Volumen an Material die Materialschwäche in der „Vierten Gewalt“ unbedingt vergessen machen soll. Einerseits. Andererseits kann das Fazit der Untersuchung nicht überraschen: „Man kann gesichert sagen, dass der Diskurs, der in den Berichterstattungen und Kommentaren der Leitmedien zum Ukrainekrieg stattfindet, die Meinungs- und Diskurslandschaft in der Bevölkerung nicht widerspiegelt.“ Die Selbstbeschränkung der Leitmedien auf eine Erzählung adressiere das Geschehen nicht entfernt in seiner ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit.

Der politische Journalismus habe, schreiben Leo Keller und Harald Welzer, einen guten Anteil daran, wie zentrale gesellschaftliche Ziele und Minima umformatiert worden seien - von Frieden auf Rüstung, von Klimapolitik auf Verteidigungspolitik, von diplomatischen Konfliktstrategien auf militärische. Fazit: „Bleibt zu hoffen, dass die große Eskalation eines entgrenzten Kriegs oder eines Atomkriegs auch dann ausbleibt, wenn so viele ihre Aufgabe darin zu sehen scheinen, sie herbeizuschreiben.“

Um diese wilde These zu gewinnen, hätte es nicht so viele Megatonnen an Material gebraucht. Ein Blick in „Die vierte Gewalt“ hätte genügt.

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