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Der französische Autor und Filmemacher Eric Vuillard

© Melanie Avanzanto

Eric Vuillards „Die Tagesordnung“: Wie die Industrie Hitler zur Macht verhalf

Gewinner des Prix Goncourt: Eric Vuillards Erzählung „Die Tagesordnung“ über den Aufstieg der Nazis ist Geschichtsunterricht von der besonderen Art.

In dem Film „Die dunkelste Stunde“ von 2017 sieht man Churchills Kampf gegen seine Widersacher, die immer wieder Verhandlungen mit Hitler forderten. Sein entnervter Auftritt am Kabinettstisch gipfelte in dem Ausbruch: „Wann wird man das endlich begreifen? Man kann mit einem Tiger nicht vernünftig reden mit dem Kopf in seinem Maul.“ Eric Vuillards Erzählung „Die Tagesordnung“ lässt das trostlose Personal der damaligen europäischen Politik aufmarschieren. Auch die britische Elite hatte nicht begriffen, das Englands Kopf im Maul des Tigers Hitler steckt.

„Die Tagesordnung“ ist Geschichtsunterricht von der besonderen Art. Der Autor, ein gelernter Historiker, pickt sich aus Bergen von Berichten die Fußnote, den Nebensatz, das Datum heraus, die seine Neugier weckten – obwohl die Informationen scheinbar nur zweitranging waren. Das schmale Bändchen beginnt mit einem obskuren Datum, dem 20. Februar 1933. An diesem Tag versammelten sich die Spitzen der deutschen Wirtschaft – 24 Herren mit wohlklingenden Namen wie Krupp, Opel, Schacht, Quandt, Flick, die mit Hitler verabredetet waren. Der wickelte die ganze Truppe ein, ließ die üblichen Tiraden gegen Kommunisten, Gewerkschafter und den schwachen Staat ab. Er versprach den Unternehmern die Freiheit, ihre Profite zu mehren. Freilich müsse er erst den Wahlkampf bestreiten. Dafür brauche er Geld. Danach, so die Verheißung, würde es keine Wahlen mehr geben. Den Unternehmern gingen die Geldbeutel auf, Krupp allein zahlte eine Million – Fundraising im Jahre 1933. So wurde der Weg in die Diktatur mit dem Reichtum der Industrie gepflastert.

Vuillard, geboren 1968, fächert mit Genuss, Ironie und Sarkasmus die Geschichte der Dreißiger auf. Mit knappen Porträts der handelnden Figuren: Lord Halifax, eine Größe der britischen Konservativen, Kurt Schuschnigg, der Wiener Kanzler, der den Weg zum „Anschluss“ bereitete, Hitlers Botschafter in London und späterer Außenminister Joachim von Ribbentrop. Diese Miniaturen zeichnen mit feinen Strichen das Näselnde, das Speichelleckerische, das Bramarbasierende der Protagonisten.

Weltgeschichte als Lunchgeschwätz samt Kochrezepten

Die Literatur zum Aufstieg der Nazis, über Appeasement und Anschluss, füllt inzwischen eine mittlere Bibliothek. Doch wird der Laie selten so punktgenau auf Zusammenhänge gestoßen wie bei Vuillard. Er führt vor, wie der Earl of Halifax oder die deutschen Großindustriellen auf Göring und Hitler hereinfielen, obwohl sie sahen, wen sie vor sich hatten. Sie wussten um die lächerliche Pose und Charakterschwäche eines Göring, ließen sich aber trotzdem bluffen. Edward Wood, der Earl, ist Vuillards besonderer „Liebling“. Denn er hat Hitler praktisch zur Einverleibung der Tschechoslowakei und Österreichs eingeladen; nur friedlich müsse es zugehen. An Premier Baldwin schrieb der Earl of Halifax nach einem Treffen mit Hitler: „Nationalismus und Rassismus sind starke Kräfte, die ich jedoch weder als widernatürlich noch als unmoralisch erachte.“ Der Mann ist also einer von uns.

Filmreif ist das Abschiedsessen für Ribbentrop, nachdem der vom Botschafter zum Außenminister befördert worden war. Zwischen den Gängen wird dem Premier Chamberlain ein Telegramm gereicht: Die Deutschen sind in Österreich einmarschiert. Ribbentrop weiß, warum sich die Miene des Premiers verdüstert. Doch die deutsche „Plaudertasche“ setzt auf eine „fast krankhafte, vor der Staatsräson rangierende Höflichkeit“ der wohlerzogenen Briten und hindert sie mit seinem Redefluss daran, Protest einzulegen. Er redet und redet und redet über französische Weine und Rasentennis. Weltgeschichte als Lunchgeschwätz samt Kochrezepten. Ein paar Monate zuvor noch hatte Chamberlain in München von „peace in our time“ gefaselt.

Hollywood war besser auf den Krieg vorbereitet als der Westen

Schnitt zum Besuch Kurt Schuschniggs. Hitler hatte sich ein perfides Drehbuch ausgedacht; man spürt Vuillards filmische Erfahrung. Der österreichische Kanzler muss nicht nur das Ende seiner Republik unterschreiben; er wird auch nach Strich und Faden gedemütigt, just das, was Hitler mit Mussolini im „Großen Diktator“ nicht gelungen war. Den Einmarsch inszeniert Vuillard als Posse, die nicht zu den manipulierten Wochenschaubildern in unserem Gedächtnis passt. Wir kennen nur die Bilder von jubelnden „Ostmärkern“. Doch die glorreiche Wehrmacht blieb buchstäblich stecken. Die Motoren der Panzer fielen aus, die Stahlmonster blockierten die Straßen. Nicht einmal Hitler kam in seiner Staatskarosse voran. „Eine steckengebliebene Armee ist der Inbegriff von Lächerlichkeit“, mokiert sich Vuillard. Die Panzer wurden mit Güterzügen „wie Zirkuszubehör“ nach Wien befördert. „Die Geschichte entrollt sich vor unseren Augen wie ein (Propaganda-) Film von Joseph Goebbels“, bemerkt er: Fake News sind keine Erfindung von Russia Today.

Wieder ein Schnitt, diesmal nach Hollywood, mit der Überschrift „Im Requisitenlager“. In den „Regalen herrschte schon Krieg“. All die „Requisiten, die wir aus sämtlichen Kriegs- und Antinazifilmen kennen, waren schon da“, bewacht und gepflegt von Günther Stern alias Günther Anders, dem Ehemann von Hannah Arendt. Hollywood war besser auf den Krieg vorbereitet als der Westen.

Die Montage der unvertrauten Miniaturen dieses rasanten und glänzend übersetzten Buches reihen sich geradezu von allein zu einem Film zusammen. Vuillard hat die historischen Fußnoten und Randnotizen mit großer Frechheit und Freiheit zu einem fesselnden Bilderbogen zusammenfügt. „Literatur darf alles“, sagt er an einer Stelle, und so schreibt er auch. Belohnt wurde er dafür mit dem Prix Goncourt.

Eric Vuillard: Die Tagesordnung. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 120 Seiten, 18 €.

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