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Atelierbesuch in New York. Rudolf Zwirner mit Duane Hansons Skulpturengruppe „Footballers“, 1969.

© Guido Mangold / VG Bildkunst 2019

Erinnerungen von Rudolf Zwirner: Pioniere, Preise, Pop-Art

Erinnerungen eines legendären Galeristen: Rudolfs Zwirners Autobiografie „Ich wollte immer Gegenwart“ ist ein Stück internationaler Kunsthandelsgeschichte, aufgezeichnet von Tagesspiegel-Redakteurin Nicola Kuhn. Ein Auszug.

Wenn mich als Kind jemand fragte, wie alt ich bin, dann machte ich mir einen Spaß daraus, zu antworten: „Tausend Jahre.“ Denn geboren wurde ich 1933, dem Jahr der Machtübernahme, das die Nationalsozialisten als Beginn ihres vermeintlich tausendjährigen Reichs deklariert hatten.

Meine Eltern versuchten, die politischen Spannungen von meinen Geschwistern und mir fernzuhalten, aber das konnten sie nicht. Mein Vater Eberhard Zwirner arbeitete seit 1929 als Sprachforscher für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die heutige Max-Planck-Gesellschaft. 1931 erhielt das Institut seinen Sitz in Berlin-Buch. Dort bin ich geboren, dort verlebte ich meine ersten Jahre.

Nach meinem Volontariat in der Galerie Der Spiegel in Köln ging ich nach Berlin zur Galerie Rosen, um den Betrieb eines Auktionshauses kennenzulernen. Zu den Händlern, die regelmäßig kamen, um Kunstwerke für den Weiterverkauf zu erwerben oder eigene Grafiken anzubieten, gehörte Heinz Berggruen, der Ende 1936 in die USA emigrieren musste und nun in Paris eine Galerie besaß. Er war damals Europas größter Grafikhändler und schaute einmal im Monat vorbei, immer mit seinem Grafikkoffer und den selbstverlegten Editionen.

Im Gepäck führte er außerdem seine amerikanische Uniform, die er aus seiner Zeit als Sergeant der US-Army besaß. Er trug sie abends zum Ausgehen, denn das gefiel den Berliner Mädchen. Eines Tages sagte er zu mir: „Was tun Sie hier? Sie müssen nach Paris kommen und sich dann selbstständig machen.“

Paris galt damals als das Zentrum der internationalen zeitgenössischen Kunst. Dorthin wollte ich, denn ich konnte mir nicht vorstellen, Kunsthändler zu werden, ohne fließend Englisch und Französisch zu sprechen.

Die erste Documenta 1955 hatte ich noch als Greenhorn gesehen und dort die Entscheidung getroffen, mein Jurastudium abzubrechen und beruflich etwas mit Kunst zu machen. Auf der zweiten Documenta vier Jahre später war ich bereits ihr Generalsekretär. Neben dem Gründer Arnold Bode war der Kunsthistoriker Werner Haftmann die treibende Kraft. Mit dieser Ausstellung wollte er seine Vision von der Abstraktion als Weltsprache durchsetzen. Die Figuration hatte sich für ihn während des Nationalsozialismus durch ihre Instrumentalisierung für propagandistische Zwecke diskreditiert. Allerdings kam die Abstraktion auf der Documenta bei weitem nicht so furios zur Geltung, wie er es sich gedacht hatte.

Mit der zweiten Documenta begann die Vormachtstellung der École de Paris

Dafür sorgte der amerikanische Beitrag. Beim Museum of Modern Art wurde die Auswahl getroffen, als Generalsekretär bekam ich aus New York die Anmeldeformulare für jedes Bild und reichte sie an die Druckerei weiter, ohne mir die Größenangaben von Jackson Pollock, Mark Rothko, Barnett Newman oder Franz Kline genauer anzuschauen. Normalerweise maß ein Gemälde 80 mal 120 Zentimeter. Davon ging ich aus. Stattdessen hätten mir die Abweichungen auffallen, hätte ich Alarm schlagen müssen. Dieser Fehler sollte kunsthistorische Folgen haben, denn die Amerikaner erhielten durch ihre riesigen Formate einen spektakulären Auftritt im Fridericianum. Für sie wurde die Beletage frei geräumt. Mit der zweiten Documenta begann die Vormachtstellung der École de Paris, der europäischen Abstrakten zu bröckeln. Sie verschob sich zugunsten der amerikanischen Malerei.

[„Zeitung im Salon“ mit Nicola Kuhn und Rudolf Zwirner. Moderation: Jan Oberländer. Montag, 21. 10., 19 Uhr. Eintritt inkl. Sekt und Snack 16 €. Infos und Anmeldung hier.]

Während ich in Essen im Anschluss an die Documenta II. als Galerist vergeblich Fuß zu fassen versuchte, begann sich in Köln eine neue Szene zu etablieren. Düsseldorf hatte die Kunstakademie, aber Köln das Studio für Elektronische Musik beim WDR, um das sich Protagonisten der Neuen Musik scharten: Karlheinz Stockhausen, sein Schüler Nam June Paik, John Cage. Bonn war zwar Regierungssitz geworden, aber das benachbarte, lebhafte Köln entwickelte sich zur kulturellen Kapitale.

Hier zeigte ich 1963 in meinem ersten Jahr Cy Twombly, Konrad Klapheck, Rupprecht Geiger, Daniel Spoerri und erfuhr endlich die Aufmerksamkeit, die ich mir immer gewünscht hatte – nicht zuletzt durch einen Skandal, den ich 1963 mit der Ausstellung „Zeichnungen von Schimpansen und Gorillas“ provozierte. Sie war medial meine erfolgreichste. Ich konnte Sprüche wie „Das kann mein Kind auch“ nicht mehr hören und wollte demonstrieren, dass die gestische Malerei Spiritualität besäße, dass sie mit der angelernten Pinselei eines Affen nicht zu vergleichen sei, über die damals in den Zeitungen viel berichtet wurde. Es gab einen Riesenrummel, permanent kamen Besucher in meine Galerie. Verstanden wurde die Ausstellung trotzdem nicht.

Licht als Skulptur - das war neu

1966 zeigte ich als erste europäische Galerie eine Ausstellung mit Dan Flavin. Er war damals erschwinglich für mich. Noch stand er am Beginn seiner Karriere und musste sich als Aufseher im MoMA sein Geld verdienen, wie so mancher New Yorker Künstler. Außerdem fiel der Transport nicht groß ins Gewicht, denn die Leuchtstoffröhren für seine Installationen kaufte er in Deutschland im nächsten Laden. Während seiner Schau passierte es immer wieder, dass Besucher hereinkamen, um nach der nächsten Ausstellung zu fragen. Wenn ich ihnen erklärte, dass sie sich mittendrin befänden, reagierten sie perplex. Licht als Skulptur, das hatten sie noch nicht gesehen.

Auch die Kölner Sammlerin Gisela Fitting wollte es nicht glauben und trat im Laufe unseres Gesprächs einen Schritt zurück und mit dem Absatz versehentlich in eine von Flavins Neonröhren, die zerbarst. Als ich ihr sagte „Frau Fitting, Sie haben gerade ein Kunstwerk für 2000 Deutsche Mark zerstört“, antwortete sie nur: „Sie sind und bleiben ein Schelm.“ Damals war der Schaden nicht tragisch, die Röhre ließ sich ersetzen, wenige Jahre später hätte der Vorfall einen Skandal ausgelöst.

Spitzenwerke kosteten 60.000 Deutsche Mark

Die Situation war desolat, nicht nur für mich allein. Die vergleichsweise wenigen Sammler, die es in Deutschland gab und deren Interesse sich vornehmlich auf die klassische Moderne oder die École de Paris richtete, reisten eher nach Paris, Mailand oder Basel. Es musste etwas passieren. Die Idee, einen offenen Marktplatz für die zeitgenössische Kunst zu entwickeln, ging nicht zuletzt auf Andy Warhols Produktionsweise und Vermarktungsstrategien zurück. Mit der Präsentation seiner Brillo Boxes 1964 in der New Yorker Stable Gallery hatte er die Kunst unverblümt zur Ware erklärt.

Zum ersten Kölner Kunstmarkt 1967 mit 18 Avantgardegalerien im Festsaal des Gürzenich kamen ohne größere Werbung 15.000 Besucher. Die Preise lagen zwischen 20 Deutschen Mark für eine Grafik und 60.000 Deutschen Mark für Spitzenwerke. Eine atemberaubende Summe, denn ein fabrikneuer VW-Käfer kostete damals 5150 Deutsche Mark. Für Händler alter Schule wie Daniel-Henry Kahnweiler aber bedeutete die öffentliche Auspreisung ein Sakrileg. Für sie hatte die Abwicklung des Geschäfts in gepflegter Atmosphäre und diskret zu verlaufen. Genau diese Distinktion durchbrachen wir.

Peter Ludwig schimpfte - und kaufte trotzdem

Im Jahr darauf besuchte mich erstmals der Schokoladenfabrikant Peter Ludwig. 1968 kannte ich ihn noch nicht und wunderte mich über diesen über einen Meter neunzig großen Mann, Typ Generaldirektor, der mit seiner Autorität sogleich den Raum beherrschte. Er schritt die Bilder ab und fragte bei jedem: „Von wem ist das?“ – „Warhol.“ – „Was kostet das?“ – „4000 Mark.“ Beim nächsten: „Von wem ist das?“ – „Lichtenstein.“ – „Was kostet das?“ – „8000 Mark.“ Und: „Von wem ist das?“ – „Rosenquist. 5000.“ Dann verabschiedete er sich ohne weiteren Kommentar. Zu meiner erstaunten Frau sagte ich vorausahnend: „Der kommt wieder.“

So war es. Bei seinem zweiten Besuch wiederholte sich das Spiel. Aber nun hatten sich die Preise erhöht. Als er empört den Grund wissen wollte, antwortete ich ihm nur: „Weil ich es so sage. Und weil es für mich im Einkauf teurer wird.“ Das entsprach den Tatsachen, denn seit der ersten Kunstmesse entwickelten sich die Preise dynamisch, auch im Hinblick auf die 4. Documenta, die im selben Sommer eröffnete. Ludwig schimpfte zwar, doch kaufte er, darunter das kleine Warhol-Porträt von Jackie Kennedy. Ganz Geschäftsmann forderte Ludwig zudem Rabatt. So begann unsere Zusammenarbeit.

Rudolf Zwirner mit Tochter, Ehefrau Ursula und Mitarbeiter (stehend) vor seiner ersten Kölner Galerie am Kolumbakirchhof.
Rudolf Zwirner mit Tochter, Ehefrau Ursula und Mitarbeiter (stehend) vor seiner ersten Kölner Galerie am Kolumbakirchhof.

© Guido Mangold

Peter Ludwig entwickelte bereits damals den Plan, im großen Stil für das Kölner Wallraf-Richartz-Museum zu sammeln. Später sollte daraus das Museum Ludwig direkt am Dom entstehen. Weitblickend erkannte er den Beginn einer neuen Epoche und war überzeugt, Pop Art würde einmal so bedeutend werden wie der Kubismus, Expressionismus und Surrealismus. Die Pop Art reizte ihn, weil sie seinem unternehmerischen Denken entsprach: „Auf die Verpackung kommt es an, nicht auf den Inhalt“, lautete ein Leitsatz von ihm.

Das galt auch für die Pop Art: Nicht um geistige Inhalte ging es, sondern die Wahrnehmung – möglichst laut, bunt, grell. Kaufmännisch versiert, sah Ludwig außerdem voraus, dass diese Kunst nicht nur wichtiger, sondern auch teurer werden würde, weil mit Amerika eine ganz andere Kaufkraft dahinterstand. Mit ihm als Kunde hatte ich als Galerist meine besten Jahre.

Aus dem Umzug nach Berlin wurde erst spät etwas

Ursprünglich wollte ich meine Galerie gar nicht schließen, sondern nur nach Berlin verlegen. Mein Leben lang hatte ich mir vorgenommen, in meine Geburtsstadt zurückzukehren, sobald es möglich wäre, ohne Zwischenstopp in die Stadt zu reisen. Die Kontrollen an der deutsch-deutschen Grenze konnte ich nicht ertragen, sie riefen in mir Erinnerungen an die Restriktionen im „Dritten Reich“ wach. In dem Moment, als die Mauer fiel, reiste ich sofort hin, um den Jubel zu erleben, und wusste, dass die politische Zäsur auch für mich eine sein würde. Doch so schnell wie erhofft ging der Wechsel nicht, obwohl ich schon bald passende Räume für meine Galerie am oberen Kurfürstendamm fand. Die Pläne zerschlugen sich.

Aus dem Umzug wurde erst später etwas, als mich die Berliner Festspiele als Kurator für die Ausstellung „Deutschlandbilder – Kunst aus einem geteilten Land“ 1997 im Martin-Gropius-Bau engagierten. Fünf Jahre zuvor hatte ich wieder mit Hein Stünke, mit dem ich schon den Kölner Kunstmarkt aus der Taufe gehoben hatte, das Zentralarchiv des deutschen und internationalen Kunsthandels (ZADIK) in Bonn gegründet.

Zufall oder nicht, genau in dem Moment, als ich die Galerie in Köln aufgab, beschloss mein Sohn David, in New York eine neue zu gründen. Das passte, denn nebeneinander hätten wir nicht existieren können. Innerhalb der Familie wollte ich keine Konkurrenz, keinen Wettbewerb, bei dem ich nur der Verlierer gewesen wäre. Dynastisches Denken lag mir ohnehin fern, jeder musste seinen eigenen Weg gehen. Trotzdem schien Anfang 1993 wegen der Wirtschaftskrise der ungünstigste Zeitpunkt für einen solchen Neubeginn, als in Manhattan rundum die Galerien schlossen. Meinem Sohn aber brachte der Start im Moment einer Baisse Glück, er konnte auf Anhieb mit internationalen Künstlern zusammenarbeiten. Die Sammler vertrauten ihm, in New York zählte der Name Zwirner etwas.
Rudolf Zwirner: Ich wollte immer Gegenwart. Autobiografie. Aufgeschrieben von Nicola Kuhn. Wienand Verlag, Köln 2019. 256 Seiten, 25 €.

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