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Ein glücklicher Lahav Shani dankt beim Schlussapplaus den Musikerinnen und Musikern.

© Stephan Rabold

Berliner Philharmoniker: Erste Sahne

Der Dirigent Lahav Shani rettet das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker, Janine Jansen begeistert mit Max Bruchs 1.Violinkonzert.

Es sollte ein Programm mit Doppelrahmstufe werden. Wienerisch wollte Kirill Petrenko das Jahresendprogramm seiner Berliner Philharmoniker gestalten. Aber nicht als Walzer-Polka-Hitparade wie die Wiener Konkurrenz, sondern raffinierter konzipiert, mit zwei reizvollen Raritäten der besonders üppig instrumentierten Spätromantik, Erich Wolfgang Korngolds Ouvertüre zu „Viel Lärm um nichts“ von 1920 und der Orchestersuite aus dem „Schlagobers“-Ballett, das Richard Strauss vier Jahre später auf ein eigenes Libretto komponierte.

Darin darf ein Knabe in der Konditorei Demel so viel Kuchen essen, wie er mag, weshalb er sich den Magen verdirbt, das Bett hüten muss. In seinen fiebrigen Träumen begegnen ihm personifizierte Sahnehäubchen, Törtchen und Pralinés sowie Prinz Kaffee und Prinzessin Teeblüte.

Ein Hexenschuss plagt den Chefdirigenten

Am Montag hatte Petrenko noch die erste Probe für das Programm geleitet, das ab Mittwoch wie üblich dreimal gespielt werden sollte, am Silvesterabend mit Übertragung im Fernsehen (zeitversetzt ab 18.35 Uhr auf Arte) sowie im Radio (live ab 17.15 Uhr auf RBB Kultur). Doch dann machte ein Hexenschuss den Dirigenten bewegungsunfähig. Intendantin Andrea Zietzschmann telefonierte herum – und fand im 32-jährigen Lahav Shani einen furchtlosen Einspringer für den Chefdirigenten.

Der israelische Maestro hat an der Berliner Eisler-Hochschule studiert, konnte schon 2015 beim RSB debütieren, dirigiert seit 2017 regelmäßig Daniel Barenboims Staatskapelle, wurde 2020 erstmals auch von den Berliner Philharmonikern eingeladen und ist seit Herbst dieses Jahres Nachfolger von Zubin Mehta beim Israel Philharmonic Orchestra.

Weil nur noch eine Probe am Dienstagnachmittag und die Generalprobe am Mittwochvormittag vor Verfügung standen, musste Lahav Shani das Programm ändern: Petrenkos Wiener Kalorienbomben flogen raus und wurden durch zwei ihm vertraute Werke ersetzt, die „Fledermaus“-Ouvertüre sowie die Suite aus Strawinskys „Feuervogel“-Ballett. Dafür dirigiert er den Abend komplett auswendig, ohne Partituren.

Ein begeisternder Beginn

Mit Verve stürzt er sich in die Ouvertüre, will von Schmäh und k.u.k.-Behaglichkeit nichts wissen, lässt Johann Strauß keck klingen wie Offenbachs Sozialsatiren: Niemand im Saal würde sich wundern, wenn diese tolle Musik plötzlich in einen Can-Can mündete.

Der feuerwerkshafte Einstieg nimmt selbst die Skeptiker sofort für den Ersatzmann ein – doch da überlässt er auch schon Janine Jansen das Rampenlicht. Die niederländische Geigerin soll Max Bruchs 1. Violinkonzert spielen, noch so einen Wunschkonzertklassiker.

Mit entwaffnendem Lächeln betritt sie die Bühne – und überrumpelt ein Publikum, das auf gehobene Unterhaltung eingestellt ist, mit ihrer unerhörten Ernsthaftigkeit. Schon der erste Einsatz knistert vor Intensität und innerer Spannung, hier geht es um Existentielles, kein Ton ist überflüssig, die simpelste Spannungsauflösung von der Dominante zur Tonika wird zum atemberaubenden Akt.

Janine Jansen zieht das Publikum in ihren Bann

Im langsamen Satz widersteht Janine Jansen jeder Versuchung zur Schmatzigkeit, absolut privat ist ihr Ton, völlig ohne Druck der Bogenansatz. Und auch im hoch virtuosen Finale gibt es keine Schaut-her-was-ich-kann!-Gesten, sondern nur den Ausdruck überschäumender Lebenslust, als jagte die Geigerin auf einem Pferd durch weites Land, ohne Sattel, mit wehendem Haar.

Warum sie das beste Orchester der Welt sind, zeigen die Philharmoniker nach der Pause, wenn sie, fast ungeprobt, zwei komplexe sinfonische Schaustücke absolut CD-pressreif spielen. Wie sie sich im „Feuervogel“ kollektiv konzentrieren, blitzschnell auf Lahav Shanis Impulse reagieren, Strawinskys Klangfarbenvielfalt schillern lassen, zartfühlend in den lyrischen Passagen, lustvoll zupackend bei den schnellen Nummern, bis hin zum herrlichsten Krach, das ist schlicht phänomenal.

Und der Dirigent setzt noch eins drauf, angstfrei und mit ruhiger Hand, wenn er Ravels „La Valse“ zum brillanten Rausschmeißer macht. Das französische Tonpoem ließe sich auch abstrakt-artifiziell interpretieren, mit einem distanzierten Blick aus der Vogelperspektive auf eine Gesellschaft, die am Vulkankrater tanzt. Doch Lahav Shani entscheidet sich selbstbewusst für die sinnliche Lesart, will den Taumel der wirbelnden Paare erlebbar machen, das süße Schwindelgefühl, die höchste Lust im Kontrollverlust, zumindest so weit die bürgerliche Vorstellungskraft reicht. So darf ein vermaledeites Jahr gerne zu Ende gehen!

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