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Bitte recht freundlich. Polizist in der jungen ungarischen Republik (undatiert).

© ullstein bild - Roger-Viollet

Erzählungen von Andor Endre Gelléri: Helden des Widerspruchs

Neu übersetzt: Erzählungen des großen Ungarn Andor Endre Gelléri, der in den 20er und 30er Jahren der Arbeiterklasse eine Stimme gab.

Es ist immer wieder erstaunlich, wenn ein Kind sich über die Grenzen seines Umfelds hinausbewegt und auf eigene Faust eine unbekannte Welt erkundet. Wenn es den von den Eltern vorgegebenen Horizont auf eigene Faust weitet und neue Ausdrucksweisen lernt – solche, die aus einer anderen Sphäre zu kommen scheinen, jedenfalls nichts mit seinem Herkunftsmilieu zu tun haben. Wie gelingt ein solcher Ausbruch, eine Überschreitung der Vorgaben und Klassenhürden, ein Übertritt ins faszinierende Fremde? Dem 1906 in Budapest geborenen Andor Endre Gelléri jedenfalls war diese Kunst nicht in die Wiege gelegt.

Wie viele Väter hatte auch der von Andor Endre Gelléri keinen Sinn für die Träumereien seines Sohnes. Der Schlosser, der mit einer Firma für Panzerschränke reüssieren wollte, nötigte seinen 15-jährigen Filius, das Gymnasium zu verlassen und etwas Anständiges zu tun. Eigentlich aber wollte Andor Endre schreiben. Schon als Jugendlichem flossen ihm die Geschichten nur so aus der Feder. Stattdessen musste er sich in allerlei Berufen verdingen, als Transportarbeiter, Färber, Schlosser und in gut zwei Dutzend Professionen mehr.

Zugleich aber war dieser Fluch ein Segen. Denn was er unter Arbeitern erlebte, floss direkt in seine Texte ein. Die schlecht beleumundeten Viertel Budapests kannte er von klein auf, und er wusste, dass es da rau und elend zuging, aber auch Wünsche und Fantasien gediehen. Er machte diese Welt literaturfähig und sich selbst zum Schriftsteller.

Gelléri konnte von seinen Veröffentlichungen nicht leben

Die 20er und 30er Jahre, in denen seine Geschichten entstanden, waren eine Zeit der wirtschaftlichen Krise und der Not. Wer Arbeit hatte, wurde schamlos ausgebeutet. Mit seinen Erzählungen und Novellen – mehr als 100 hat er bis zu seinem Tod verfasst – wandte sich Gelléri diesem proletarischen Milieu zu, nicht als sozialer Ankläger, sondern als Beobachter. Er gab den Armen eine Stimme; hörte, was und wie sie redeten; sah, wie sie sich durchschlugen. Und sparte nicht an Witz und Ironie. Denn in allem Leid erkannte er auch das Absurde, das Bizarre, manchmal sogar das Glück.

Dieses war ihm selbst zunächst durchaus hold. Früh hatte Gelléri mit seinen Erzählungen Erfolg. Redakteure einflussreicher Literaturzeitschriften wurden auf ihn aufmerksam. Er veröffentlichte kontinuierlich, und auch wenn er davon nicht leben konnte, pries man sein Talent, erkannte ihn als Erneuerer, lobte wie der Schriftsteller Dezsö Kosztolányi seinen „feenhaften Realismus“.

Was diese paradoxe Kombination bedeutet, kann man besonders in seinen Erzählungen entdecken. Sie liegen nun in einer Auswahl übersetzt von Timea Tankó vor. Gelléris Geschichten handeln von Arbeitern und kleinen Angestellten wie Vera, die in einem Musikgeschäft tätig ist, von der eigenen Mutter vernachlässigt und von ihrem Chef schikaniert wird, bis sie eines Tages die Ungerechtigkeit nicht länger erträgt und ihm die Meinung geigt – was natürlich zu ihrer Entlassung führt. Diese wirkt wie eine Befreiung und ermöglicht ihr, endlich mit dem zuvor Unvorstellbaren zu liebäugelm, nämlich Tänzerin zu werden.

Handfestigkeit und Zartheit stehen nebeneinander

Auch wenn dies eine Illusion bleiben wird – es ist ein solcher Moment der Selbstermächtigung, der dem schreibenden Schlossersohn Andor Endre Gelléri vertraut gewesen sein dürfte. Es ist immer wieder dieser Umschlag von einer detailgenauen Wirklichkeitszeichnung ins Utopische. Und es gibt jene Kippmomente, die vom Realistischen unvermittelt ins Groteske führen. Oder ins Poetische.

So beobachtet einmal der Erzähler in der Geschichte „Buntes Glas“, die vom Vergehen der Zeit und dem Älterwerden handelt, wie ein Gärtner den Sprenger auf einem Rasenstück anstellt: „Ein Schmetterling fliegt staunend um den Schleier des Wasserzeltes herum wie die Käfer am Abend um die Lampe, und es kommen immer neue Spatzen aus dem Himmel, aus den Bäumen angeflattert. Und nun ist es, so nehme ich an, Brotzeit. Sie schnabulieren, lärmen, verkünden, dass am 25. September das Spatzenfreibad eröffnet hat: Meine Damen und Herren, Jungen und Mädchen, kommt schnell, denn da nähert sich bereits der Gärtner mit der Mütze, beugt sich hinunter, ergreift etwas am Boden, es ist der Wasserhahn, der Schauer wird immer lichter und erstirbt letztlich, und da schließen auch die unsichtbaren Pforten des Spatzenfreibads wieder. Die Spatzen zerstreuen sich, und der neugierige Schmetterling kreist um die Stelle, wo gerade eben noch ein Wunder zu sehen gewesen ist, und nur die Tropfenmützchen auf den Grashalmen und das silbrige Gesicht der Wildeichenblätter erinnert daran.“

Es gibt etliche solcher beglückender Passagen. In diesen Geschichten, die von den Ärmsten handeln, scheint die Wahrnehmungskraft extrem geschärft, Handfestigkeit und Direktheit stehen neben Zerbrechlichkeit und Zartheit. Das ist ebenso weit entfernt von naiver Sentimentalität wie von kitschiger Sozialromantik. Niemals sind Gelléris proletarische Helden nur Opfer. Niemals sind sie ohne Widersprüche.

Ein schmales Werk, aber ein großes Vermächtnis

Dass die Wirkung dieser Texte so stark und frisch ist, hat damit zu tun. Aber auch mit der Übersetzung. Das merkt man, wenn man sie mit älteren Übertragungen vergleicht. 1969 ist schon einmal unter dem Titel „Budapest und andere Prosa“ eine Auswahl von Gelléris Erzählungen erschienen, übersetzt von der Autorin Barbara Frischmuth. Nicht immer aber sind Schriftsteller auch die besseren Übersetzer. Vielleicht, weil sie zu sehr ihrem eigenen Ton verhaftet sind. Tankó jedenfalls nimmt sich eine größere sprachliche Freiheit. Ihre Übersetzung hat Eleganz und Rhythmus. Sie ist wagemutiger. Zu ihrer Arbeit merkte Tankó an, dass man Gelléris Texte nicht aus dem Ungarischen, sondern aus dem Gellérischen übersetzen müsse.

Das gilt auch für seinen einzigen Roman „Die Großwäscherei“, der vor drei Jahren im selben Verlag erschien. Als dieses Buch erstmals herauskam, war Gelléri gerade 24 Jahre alt. 15 Jahre sollte er da noch leben. Als Jude wurde er von den Nazis ab 1940 zur Zwangsarbeit gezwungen. Damals begann er, an einem autobiografischen Roman zu schreiben. Gelléri starb kurz nach der Befreiung des KZs Mauthausen, in das er schließlich deportiert worden war, an einer Typhusinfektion. Es ist ein schmales Werk, das er hinterlassen hat. Aber es ist ein großes Vermächtnis – das hoffentlich bald in Gänze auf Deutsch vorliegt.

Andor Endre Gelléri: Stromern. Erzählungen. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Nachwort von György Dalos. Guggolz Verlag, Berlin 2018. 280 Seiten, 24 €.

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