zum Hauptinhalt
Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah bei einer Lesung dieses Jahr in Leipzig.

© dpa

Abdulrazak Gurnahs Roman "Ferne Gestade": Es besser nicht tun

Mit Melville und den Märchen aus tausendundeiner Nacht die Migration erträglicher machen: Abdulrazak Gurnahs guter, zeitgemäßer Roman "Ferne Gestade".

Es gibt in diesem Roman des letztjährigen Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah eine Figur, die selbst nur aus der Literatur stammt; eine Hauptfigur zweiter literarischer Ordnung, wenn man so will. Bartleby heißt sie, der Schreiber aus Herman Melvilles gleichnamiger Erzählung aus dem Jahr 1853.

Bartleby arbeitet in einem Büro an der New Yorker Wall Street und verweigert sich erst den Aufträgen, die er bekommt, und schließlich dem Leben überhaupt: „I would prefer not to.“

Als „wundervoll“ und „bewegend“ beschreibt diese Geschichte eine der beiden Hauptfiguren von „Ferne Gestade“, wie Gurnahs Roman betitelt ist. Es ist dies der gerade in England als Asylbewerber akzeptierte Saleh Omar. Er stammt aus Sansibar, ist schon 65 Jahre alt, tut so, als würde er nur die Worte „Flüchtling“ und „Asyl“ auf Englisch kennen und gibt erst spät seiner Betreuerin zu erkennen, dass er des Englischen mächtig ist.

Auf ihre Frage, warum er sich der Sprache bislang verweigert hat, antwortet Omar mit dem berühmten Melville-Satz, um anschließend mit einer gewissen Genugtuung zu erkennen, dass sie diese Erzählung nicht kennt.

Beide Männer eint die Bewunderung für Melville

Auch Omars ebenfalls aus Sansibar stammender Gegenspieler Latif Mahmud, der in jungen Jahren nach England flüchtete und jetzt in London Literaturprofessor ist, schwärmt von dieser „schönen Geschichte“, über die er auch schon einmal eine ganze Lehrveranstaltung abgehalten hat: „Ich mag die teilnahmslose Kraft im Untergang dieses Mannes, die edle Sinnlosigkeit seines Lebens.“

Mahmud sollte als Landsmann von Omar eigentlich beim Übersetzen und dessen Eingewöhnung helfen. Doch kennen sich beide aus ihrer Heimat, wie dem Literaturprofessor schwant, als er den Namen hört, den Omar bei seiner Flucht verwandt und in seinem Pass stehen hat: Rajab Shaaban.

So hieß Latif Mahmuds Vater, mit dem wiederum Saleh Omar eine verwickelte, unheilvolle Geschichte verbindet. Beide Männer lernen sich also kennen in der Wohnung, die Omar schließlich in einem Küstenstädtchen eine Stunde von London entfernt zugeteilt wird; und beide eint die Bewunderung für Herman Melvilles Bartleby. Was jedoch nicht darüber hinwegtäuscht, dass der jüngere, Latif Mahmud, den älteren für das Unglück seiner Familie verantwortlich macht.

Abdulrazak Gurnah lässt die Männer jeweils ihr Leben schildern. Erst den einen, wie er Mitte der neunziger Jahre nach England kommt und warum; dann den anderen, wie sich dessen Leben bis zu seiner Ankunft in England in den sechziger Jahren gestaltet hat.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus der Ukraine live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Schließlich, bei ihrer Begegnung in der Küstenstadt, übernimmt einzig Saleh Omar das Erzählzepter, dabei um Verständnis und Vergebung für all das bittend, was in den Jahren der Familienfehde passiert ist.

Abdulrazak Gurnahs Roman, im Original als „By the Sea“ 1994 erschienen und jetzt nach „Das verlorene Paradies“ als zweites Buch des Literaturnobelpreisträgers wiederveröffentlicht (nachdem es 2002 schon einmal in der Edition Kappa in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht worden war), wirkt trotz seiner Alters von fast dreißig Jahren ungemein zeitgemäß.

Ja, auch mit diesem Roman zeigt sich, wie richtig das Nobelpreiskomitee 2021 mit der Kür dieses Autors gelegen hat, von dem bis dato selbst in der Literaturwelt nur wenige Notiz genommen hatten.

Gurnah durchdringt hier die Schicksale von Geflüchteten präzise und mitfühlend, gerade in der Kluft zwischen den Kulturen und Kontinenten. Was Saleh Omar da allein von seinen Begegnungen mit Beamten, von den Formalitäten, von trostlosen Unterkünften zu berichten weiß.

Oder wie ihm sein kleines Kästchen mit Weihrauch weggenommen wird, mit dem wunderbar duftenden Ud-al-qamari, dem Holz der Khmer, für ihn der „Duft der Erinnerung“, sein einziger Besitz. Oder wie er in einem dreckigen Zimmer sich auf ein sauberes Handtuch bettet, „Alfonsos Handtuch“, ein einziger letzter Halt.

Vom Golf über Sansibar nach Indien

Dazu kommen die vielen Geschichten, die dieser Roman von einer literarisch bislang weitgehend wenig beachteten Region erzählt: von jener Küste Ostafrikas mit ihren kolonialen und postkolonialen Prägungen. „Ferne Gestade“ handelt vordergründig von einem Haus und einem Darlehen, dass beide Männer so ungut miteinander verbindet, wie sich herausstellt haben sie sogar verwandtschaftliche Beziehungen.

Im Hintergrund aber sind die tiefen kolonialen Spuren sichtbar, die Deutsche und Engländer hinterlassen haben, da spielt der Umsturz in Sansibar (das hier übrigens nie als Ort benannt wird) Anfang der sechziger Jahre eine Rolle, die Entlassung in die Unabhängigkeit 1964, die postkolonialen Schreckensjahre im Anschluss daran.

Und ebenfalls porträtiert Gurnah wie nebenbei die ethnische Diversität dieser Region, mit ihren unterschiedlichen Religionen, Riten und Glaubensrichtungen, mit ihren Händlern, Verwaltungsangestellten und Kaufleuten, die oft aus den Golfstaaten, vom indischen Subkontinent oder vom afrikanischen Festland kommen und mal mehr, mal weniger Wurzeln schlagen, aber immer ihre Einflüsse hinterlassen; eine letztendlich männlich dominierte Welt, in der sich die Frauen hinter verschlossenen Türen zu emanzipieren versuchen.

Auch Saleh Omar ist in jungen Jahren bereits unterwegs. Er wird zum Studium nach Kampala geschickt, gewinnt hier zwei Freunde, der eine aus Kenia, der andere aus Bukoba, vom Tanganjika-Ufer des Victoriasees, und am Ende ihrer Studienzeit wollen alle drei noch eine gute Zeit bei der Familie des einen am Victoriasee.

Verweise auf "Tausendundeine Nacht"

Das aber geht schief: Die Familie zeigt sich feindlich ein gestellt, ohne dass Gurnah oder sein Erzähler die Gründe dafür näher erläutern.

Es gibt hier viele solcher im Grunde handlungsferner, für die Lebensgeschichte der Hauptfiguren aber enorm wichtige Episoden. Zum Beispiel die von Latif Mahmuds Bruder, der dem zwielichtigen Händler Hussein auf Nimmerwiedersehen nach Bahrein folgt; die eines Schiffskapitäns, der der Mann von Saleh Omars Stiefmutter war, bevor sie seinen Vater ehelichte; oder auch die von Latif Mahmud selbst, wie er in den frühen sechziger Jahren zum Studium der Zahnmedizin in die DDR geschickt wird und hier seine Brieffreundin kennenlernt, die sich als männlichen Geschlechts entpuppt.

Diese Geschichten haben etwas Verschlungenes, wirken zunächst weit hergeholt; manchmal wirkt es, als würde Gurnah der Fokus aus dem Blick geraten. Doch deuten die vielen Verweise vor allem auf „Tausendundeine Nacht“ (und nicht zuletzt den Koran) daraufhin, in welcher Tradition er sich sieht, in welche er sich einschreibt.

Außerdem kommt der 1948 in Sansibar geborene Schriftsteller und emeritierte Professor für koloniale und postkoloniale Literatur immer wieder in die Spur.

Diese wird von einer langen Schlusspassage geprägt, in der Saleh Omar sein schon vor der Flucht nach England aus allen Wurzeln gerissenes Leben schildert. Das Ende ist ein versöhnliches, Latif Mahmud beginnt zu verstehen - und doch zeigt Abdulrazak Gurnah an diesem Ende abermals die Tristesse von Migrantenschicksalen. Edel und schön ist die Sinnlosigkeit des Lebens nur in der Literatur.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false