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Filmszene aus "Marguerite & Julien".

© Cannes Film Festival

Bonjour Cannes (8): Es darf ein bisschen mehr sein

Mit den Dramen "La loi du marché" und "Marguerite & Julien" zeigt sich der Wettbewerbs-Jahrgang in Cannes immer noch ziemlich durchwachsen. Allein die asiatischen Beiträge sorgen da für größere Abenteuer auf der Leinwand.

Eines lässt sich dem französischen Kino in diesem Cannes-Jahrgang gewiss nicht vorwerfen: dass es nicht, sagen wir's zeitgemäß sportlich, breit genug aufgestellt wäre. Und das gilt sowohl quantitativ als auch thematisch. Drei der verdächtig guinness-rekordträchtigen fünf französischen Wettbewerbsfilme (bei insgesamt nur 19 Palmen-Kandidaten) sind überstanden - und nach dem außer Konkurrenz gezeigten dünnblütigen Eröffnungs-Jugendkriminellendrama „La tête haute“ und dem von der heimischen Kritik erbarmungslos verrissenen Liebesfilm „Mon roi“ reizt die nationale Konkurrenz die stoffliche Spannweite vom Sozialen zum Sentimentalen noch ein Stückchen weiter aus.

Stéphane Brizé besichtigt, mit Vincent Lindon als eindrucksvoll zerknittertem Helden, in „La loi du marché“ die Qualen der Langzeitarbeitslosigkeit und die noch heißere Hölle prekärer Arbeitsverhältnisse, die darauf folgen kann. Durch die Schließung seiner Fabrik wird der Ingenieur Thierry aus den soliden kleinen Verhältnissen herausgerissen, in denen er sich mit Frau und behindertem heranwachsendem Sohn eingerichtet hat. Brizé zeigt das in einer strengen Reihe prototypischer, stets überlanger Demütigungssituationen, in denen Thierry dennoch Ruhe und Würde zu bewahren sucht: ein Vorstellungsgespräch per Skype, ein Videobewerbungstraining, der Gang zur Kreditbank, die Verkaufsverhandlungen um das Campingplatz-Wochenendhäuschen der Familie. Als er schließlich in einem Großsupermarkt angeheuert wird, benutzt man ihn auch dort vor allem, um Kunden wie Kollegen auszuspionieren - allesamt ähnlich arme Würstchen wie er selber.

Der Regisseur entfaltet diese Chronologie eines gewöhnlichen Niedergangs nahezu dokumentarisch - überwiegend mit Laien, die ihren beruflichen Alltag selber spielen. Und sogar dem in Frankreich sehr populären und vielbeschäftigten Hauptdarsteller Vincent Lindon nimmt man die existenzielle Dauernot ab. Nur eine filmische Handlung jenseits der Beispielsituationen will sich nicht recht einstellen; auch ein irgendwie befreiendes Agieren ist dem stillen Thierry mit Ausnahme der letzten Szene verwehrt. So mobilisiert der Film letztlich kaum mehr als leitartiklerisches Einverständnis mit Brizés gesamtgesellschaftlichem Anprangerungsimpuls. Die Exposition von purem Ausgangsmaterial aber ist für den Wettbewerb in Cannes zu wenig.

Ein Inzestmärchen: „Marguerite & Julien“

Gestaltungsideen dagegen in Hülle und Fülle hat Valérie Donzellis zwischen Barock und Gegenwart oszillierendes Inzestmärchen „Marguerite & Julien“ zu bieten - anfangs spielerisch, später eher verspielt. Anais Demoustier und Donzellis Lebenspartner und Co-Autor Jérémie Elkaim geben das in einem Schloss aufwachsende Geschwisterpaar, das, einmal erwachsen, seine erotische Liebe gegen alle familiären, religiösen und gesellschaftlichen Widerstände leben will. Erzählt wird das zunächst rasant und abwechslungsreich mit inszenatorischen Seitenblicken auf Wes Anderson und Michel Gondry - und auch forsch unmoralisch: Schließlich berauschen sich in einem Internat kleine Mädchen an der höchst romantisch verbotenen Liebe, von der die halbwüchsigen Schlafsaalgenossinnen ihnen da theatralisch erzählen. Bald aber pappen nur mehr die Konventionen des Kostümfilms und des Schauermärchens aneinander. Auch das hochtourig vorangetriebene Geschehen nimmt einen einschläfernd vorhersehbaren Verlauf. Und die erst reizvollen,  verfremdungseffekthascherischen Abstecher in die Gegenwart (mit Hubschraubern am Normannenstrand) wirken nur noch neckisch.

Arbeitslosigkeit? Schlimm. Geschwisterliebe, wenn sie denn ganz doll von Herzen kommt? Es gibt Schlimmeres. Mehr als abnicken lassen sich derlei Schmalspurbotschaften allerdings kaum, sobald es ans Sichten möglichen Gedankenmaterials geht. Da ist es schön, wenn Cannes anderswo Traum- und Albtraumreisen unternimmt, hinter deren Horizont es beseligend oder auch beunruhigend weitergeht. Könnte sein, dass in diesem ziemlich durchwachsenen Jahrgang allein die asiatischen Filme für diese größeren Abenteuer des Kinos stehen.

Apichatpong Weerasethakul: Starkes Kino aus Thailand

Der Thailänder Apichatpong Weerasethakul - „Sie dürfen ihn einfach ,Jo' nennen“, empfahl Festivalchef Thierry Frémaux dem Publikum bei der Eröffnung der Nebenreihe „Un certain regard“ - hat vor fünf Jahren die Goldene Palme mit „Uncle Boonmee“ gewonnen und es diesmal merkwürdigerweise nicht in den Wettbewerb geschafft. In einer Kleinstadt im Nordosten des Landes, Heimat des Regisseurs, sind ein Dutzend Soldaten in rätselhaften Dauerschlaf gefallen - und der Krankenhaussaal, der sie beherbergt, wird nachts mit grandios farblich wechselnden Lichtsäulen illuminiert. Träumen die Männer die Kämpfe längst verstorbener Krieger eines einstigen, unter der Klinik gelegenen Palasts, und kommen deren Seelen nicht zur Ruhe? Gibt es überhaupt Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum, Gegenwart und Vergangenheit, Tod und Leben? Neulinge in der Welt Weerasethakuls mögen über solch sanfte Auflösung westlich rationaler Dichotomien beunruhigt sein. Anderen eröffnet „Cemetery of Splendour“, geleitet durch freundliche Filmfiguren, einmal mehr einen Kosmos, tief vom Buddhismus getragen und zugleich fernab jeden esoterischen Brimboriums.

Nicht ganz auf derart innenweltraumgreifende Reisen zielt der Chinese Jia Zhang-ke („Still Life“, „A Touch of Sin“). In „Mountains May Depart“ begnügt er sich mit einer Zeitreise in drei Etappen von 1999 bis 2025. Auch sie beginnt in einer Kleinstadt, auch sie Heimat des Regisseurs: Hier lebt die junge Tao (Zhao Tao) und gibt, umworben von einem lustvoll kapitalismusorientierten Aufsteiger (Zhang Yi) und einem ernsthaften Kohlekumpel (Liang Jin Dong), dem frechen Neureichen nach. Fünfzehn Jahre später ist sie geschieden, und ihr siebenjähriger Sohn mit dem kennzeichnenden Vornamen Dollar (Dong Zijian) wächst fern im schicken Schanghai bei Papa und Stiefmutter auf. In der nur zart futuristisch inszenierten letzten Episode sucht der Sohn, mit dem dekadenten Vater inzwischen in Australien lebend und des Chinesischen nicht mehr mächtig, nach seinen fast verlorenen Wurzeln.

Mutige Kapitalismuskritik bei Jia Zhang-ke

Jeweils passend zu den drei Zeitebenen reißt das Leinwandformat immer weiter auf - andererseits wird das Leben der Figuren immer entfremdeter und enger. Je beherzter der Film die globalisierte Moderne in den Blick nimmt, desto stärker idealisiert er - bis in emotional grenzwertige Szenen und ein arg glattes Schlussbild hinein - die ärmliche Vergangenheit der chinesischen Provinz, in die Dollars Mutter längst zurückgekehrt ist. Geld allein macht unglücklich: Mit dieser kapitalismuskritischen Losung mag Jia Zhang-ke der noch immer offiziell kommunistischen Linie Chinas entsprechen. Aber wie passt sie zu einem Land, das gerade die noch vom Dollar beherrschte Restwelt mit deren eigenen Waffen schlägt? 

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