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Autorin Lot Vekemans

© Carla Kogelman

Lot Vekemans’ Thriller „Der Verschwundene“: Existenzen am Scheideweg

Hier humpelt noch ein Lonesome Cowboy über die Seiten: Die niederländische Schriftstellerin erzählt in ihrem spannenden Familiendrama von einem Mann, der aufgegeben hat.

Stand:

Simon heißt er und hat eine nässende Wunde am Bein. Sie heilt nicht, schließt nicht, wächst nicht zu, schmerzt bei jedem Schritt, verkleinert seinen Bewegungsradius, lässt ihn teilnahmslos in der Welt herumstehen und in Erinnerungen herumstochern. Das hat etwas zu bedeuten, ein Trauma wohl, denkt man als routinierter Leser von Gegenwartsliteratur, in der die Vergangenheit allzu oft als geradezu medizinisches Problem daherkommt, als chronische Verletzung, die ein unbeschwertes Leben in der Gegenwart verhindert.

Und doch fällt der Roman aus diesem Genre heraus, in dem ein Unglück erst als solches gilt, wenn es politisch zu begründen ist. Denn Simons Schicksal bietet nur wenig Anlass, sich über Diskriminierung, Gewalt, ökonomischen Zwang oder sonstiges Unrecht zu empören. Er ist ein ganz privates Wrack, ist ganz simpel auf seinen sozialen, romantischen und finanziellen Misserfolgen hängen geblieben. In Lot Vekemans’ „Der Verschwundene“ darf ein Mann noch ganz traditionell an sich selbst scheitern. Ein Lonesome Cowboy humpelt hier über die Seiten.

In jungen Jahren wanderte er aus den Niederlanden nach Kanada aus, floh vor den beengenden Verhältnissen in der Familie (ein fieser Zwillingsbruder, eine frustrierte Mutter, ein verantwortungsloser Vater), nur um sich bald darauf von seinem Onkel geschäftlich über den Tisch ziehen zu lassen. Die folgende Insolvenz stürzte ihn in eine Depression, eine Liebesbeziehung zerbrach abrupt und hässlich. Seither hält er sich finanziell mühsam über Wasser, haust in einem schäbigen Appartement, verklärt seine Einsamkeit als Wunsch nach Ruhe. An diese Wunde müsste Luft dran, doch Simon schließt sich lieber ein mit seinem Kummer, geht arbeiten, geht einkaufen, leert Bierdosen.

Routiniertes Elend

Es könnte alle so schön deprimierend sein, wenn sich nicht eines Tages Besuch ankündigte. Simons Schwester schickt ihren schwierigen Teenager-Sohn Daan über den Atlantik, ein Schulversager, der gerade erst eine Drogensucht überwunden hat. Das Zusammenleben zwischen Onkel und Neffe gestaltet sich erwartbar kompliziert. Ein Ausflug in die Rocky Mountains soll für Besserung sorgen, aber Wandern kommt wegen Simons Bein nicht in Frage. Daan schließt sich also einem anderen Urlauber namens Chris an und erkundet mit ihm die Berge. Simon freut sich zunächst über seine Ruhe, doch dann kommt ihm der aufdringliche Chris verdächtig vor. Verbirgt er etwas? Was hat er mit Daan vor, den er schon bald wie seinen eigenen Sohn behandelt? Sein Misstrauen führt zu Streit, woraufhin der Neffe alleine loszieht und nicht wiederkehrt.

In wenigen Stunden gerät so Simons routiniertes Elend durcheinander. Seine verängstige Schwester fliegt ein und konfrontiert ihn mit seiner Vergangenheit, er droht seinen ohnehin schon prekären Job zu verlieren und die Polizei scheint sich weniger für die Suche nach seinem Neffen als für ihn zu interessieren. „Der Verschwundene“ ist eine gelungene Melange aus Thriller und Familiendrama. In den Niederlanden war der Roman ein Bestseller, auch hierzulande stehen die Erfolgschancen gut, weil Vekemans’ Schreiben zwei Qualitäten verbindet, die man selten gemeinsam vorfindet. Sie ist eine genaue Beobachterin psychischer und sozialer Dynamiken, ebenso wie eine sehr versierte Handwerkerin. Sie kann Figuren lebhaft zeichnen, Atmosphären erzeugen, ihrer Geschichte mit Anspielungen Tiefe geben und zugleich einfach sehr spannend erzählen.

Manches in diesem Roman erinnert an die Theaterstücke, für die sie vor allem bekannt ist. Auch in „Gift“, dem erfolgreichsten Text der 1965 geborenen Autorin, geht ein Kind verloren. Die inzwischen getrennten Eltern treffen sich anlässlich seiner Umbettung an dessen Grab, um die Scherben ihrer Biographien aufzukehren. Das Stück wurde auch hierzulande rauf- und runtergespielt, die Inszenierung am Deutschen Theater mit Dagmar Manzel und Ulrich Matthes steht seit zehn Jahren auf dem Spielplan.

Ob der Teenager im Roman wieder auftaucht, sei nicht verraten. Es bleibt im Übrigen geschickt in der Schwebe, auf welche Figur sich der Titel bezieht. Auch Simon könnte der Verschwundene sein, hat er sich selbst doch schon lange zuvor aus dem Spiel genommen. Die Katastrophe ist für ihn auch eine Zeit der Entscheidung, wie es mit ihm weitergehen soll, ob nicht noch eine Chance besteht, sichtbar zu werden, sich retten zu lassen.

Und so gerät schließlich doch ein wenig Politik in diesen Roman, insofern er nicht nur von einem traurigen Mann erzählt, sondern auch von der Last eines überkommenen Verständnisses von Männlichkeit, die das Leid dem Leben vorzieht. Was derzeit vielfach in akademischem Vokabular beschrieben und beklagt wird, findet in dieser Figur einen lebhaften Ausdruck. Die Spannung erhöht sich zum Ende hin noch, da nun noch eine weitere Existenz auf dem Scheideweg steht.

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