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„Tooth House, ceiling“ (2014–20) besteht aus Aluminium, Plexiglas, Papier und Wellplastik. Die Deckenarbeit verändert sich mit jeder neuen Installation.

© Galerie Barbara Wien

Ian Kiaer in Berlin: Farbenfrohe Utopien

Unmögliche Avantgarde: Der britische Künstler Ian Kiaer stellt in der Galerie Barbara Wien aus.

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Wie ein großes Tier hat sich die Skulptur im Erdgeschoss niedergelassen. Ihre Haut ist so dünn, dass man die Luft in ihrem Bauch zirkulieren sieht – und hören kann man sie auch. Das Volumen kommt aus einem Ventilator, der die hauchzarte Folie mächtig aufbläst.

Galeristin Barbara Wien öffnet die Tür zu dem Raum, der ehemals eine Garage war und trotz seines schicken Umbaus weiter den Charme einer funktionellen Architektur versprüht. Ein Ort, perfekt für Ian Kiaer, der hier „Endnote ping, Marder (pale)“ installiert hat: Je einfacher und spartanischer der Ort seiner Interventionen, desto mehr fällt dem britischen Künstler ein.

Für gewöhnlich schaut man sich die Arbeit von außen an. Bleibt vor der großen Scheibe und beobachtet „Endnote pin, Marder (pale)“ dabei, wie sie den Ort bis in die letzte Ecke füllt, wabernd, amorph. Barbara Wien lässt einen ausnahmsweise fühlen, wie brüchig das Material in Wahrheit ist; dass es Löcher hat, mit Tesa geklebt wurde und sich leicht beiseiteschieben lässt.

Auf die Frage, ob ein Sammler mit der Arbeit auch das Recht auf die mehrfache Erneuerung Folie kauft, reagiert die Galeristin erstaunt. Als ob die am wenigsten wichtige Frage ist, wie Kiaer ein derart empfindliches Werk am Ende verkauft.

Tatsächlich ist diese Vergänglichkeit ein Merkmal seiner situativen Kunst. Mehr für Biennalen wie die in Venedig geeignet, wo er schon 2003 vertreten war. Kiaer hat an der Slade School of Fine Art und am Royal College of Art in London studiert, wie Tony Cragg oder Jake und Dinos Chapman. Seine bildhauerische Strategie aber ist eine andere: Ihm geht es um utopische Ideen, für die er ephemere Bilder schafft.

Eine Arbeit von monumentalem Ausmaß

An wen der 1971 Geborene dabei denkt, verraten die Titel seiner neuen Arbeiten. „Endnote ping, Marder (pale)“, das zuvor im Heidelberger Kunstverein aufgeblasen wurde und in den meterhohen Räumen einen ganz anderen Eindruck hinterließ, spielt auf den Philosophen Michael Marder an, der von der Phänomenologie ausgehend Pflanzen ein intellektuelles Bewusstsein zuspricht und für neue Ideen in der Architektur plädiert.

Ein anderes Vorbild ist der visionäre Wiener Gesamtkünstler Friedrich Kiesler. Dessen architektonische Entwürfe strebten nach fließenden Räumen und vermieden jede Parzellierung, wie sie seine der Moderne verpflichteten Zeitgenossen anstrebten. Kieslers Idee eines „kontinuierlichen Raumes ohne Trennung in Decke, Wand oder Stütze“ findet ihr Pendant in der eigentlichen Galerie von Barbara Wien ein paar Stockwerke über dem pneumatischen Aufblaswunder.

[Galerie Barbara Wien, Schöneberger Ufer 65; bis 17. April, www.barbarawien.de]

Hier hat Kiaer eine gelbe Decke montiert, die den Ort nicht bloß farblich in Schwingungen versetzt: „Tooth House, ceiling“ diffundiert auch zwischen allen Genres und landet irgendwo zwischen Deckengemälde und Installation. Eine Arbeit von monumentalen Ausmaßen, zugleich aus Papier und deshalb so fragil, dass sie auf jeder ihrer Stationen in den vergangenen sechs Jahren – vom Henry More Institute in Leeds bis zum Heidelberger Kunstverein – ein wenig gelitten hat.

Termine werden nach Lockdown per Absprache möglich sein

Kiaer sieht das konsequent anders, er verwendet für seine Arbeiten schließlich auch gebrauchte Acrylscheiben, die zuvor im städtischen Raum eingesetzt waren und ebenfalls zahlreiche Spuren tragen. Die neuen Risse im gelben Papier, zusätzliche Flecken und Markierungen erzählen für ihn die Geschichte einer großartigen Vision und ihres zwangsläufigen Scheiterns in der Wirklichkeit poetisch fort. So wie Kiesler am Ende kaum bauen konnte, weil man seinen radikalen Entwürfen nicht traute.

„Endnote, ping (de Bretteville/Asimov)“ von 2019 komplettiert, neben mehreren Zeichnungen, die Ausstellung (Preise auf Anfrage), die hoffentlich bald wiedereröffnet. Momentan beschränkt sich der Besuch auf das Warmluftobjekt im Erdgeschoss. Wenn mit der Aufhebung des strengen Lockdowns Termine nach Absprache möglich sind, rückt auch Kiaers weit kleineres aufblasbares Objekt in den Fokus, auf das er ein Video projiziert.

Zu hören ist ein Vortrag aus den 1970er Jahren von Peter de Bretteville über gemeinschaftliches Wohnen jenseits der Kleinfamilien-Idylle. Ian Kiaer offeriert seine Blase als Lösung. Da ist er nicht allein, bubbles zum Leben boten auch damals schon Avantgardisten wie Haus-Rucker-Co an. Dass sie sich nicht behaupten konnten, weiß Ian Kiaer nur zu gut. Genau deshalb schlägt er nun wieder das Unmögliche vor.

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