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Ferdinand von Schirach, 58

© dpa

Ferdinand von Schirachs Buch "Nachmittage": Die Mitte verloren

Elegisch, nachdenklich - und gern ein globaler Bestsellerautor: Ferdinand von Schirach lässt sich in "Nachmittage" ein paar Lebensgeschichten erzählen.

Es gibt gegen Ende dieses neuen Buches von Ferdinand von Schirach eine verblüffende Geschichte. Sie versinnbildlicht womöglich das mutmaßlich zentrale Anliegen des Autors am besten. Der Erzähler, der viel gemein hat mit Ferdinand von Schirach, ist in Oslo bei einem Literaturfestival, es sind die letzten Tage im April 2019, Frühlingserwachen im Norden.

Er trifft einen alten Bekannten, der inzwischen in Norwegens Hauptstadt lebt. Dieser Peter Middleton hat Chemie und Philosophie studiert. In Peking, wo er die Forschungsabteilung eines Chemiekonzern leitet, lernt Middleton eine Norwegerin kennen, eine Journalistin, mit der er unter anderem in den Nordirak geht, um den Genozid an den Jesiden zu recherchieren und jesidische Frauen zu porträtieren.

Middleton berichtet Schirach, dass er in Oslo seinen Frieden mit sich und der Welt gemacht und seine Mitte gefunden habe: „Wir können nur in der Mitte leben. Jedes Extrem ist falsch. Und ich habe viele Extreme erlebt.“ Danach führt er den Anwalt und Schriftsteller aus Deutschland in eine kleine Seitenstraße von Oslos Königshausallee, der Karl Johans Gate, zu einem kleinen Supermarkt.

Hier erzählt er dem Besuch, dass er diesen mit vier Angestellten selbst leite. Auf die irritierte Feststellung seines Gegenübers, dass das nur ein Supermarkt sei, sagt er, keine Schirach-Geschichte ohne Pointe oder anderweitig überraschenden, sinnstiftenden Sätzen: „Nein, mein Freund, das ist die Mitte.“

Diese Nachmittage sind ganz und gar globaler Natur

Ob Ferdinand von Schirach intensiv auf der Suche nach einer Mitte ist? Nachdem er mit den Fallgeschichten aus seinem Berufsleben als Strafverteidiger zum Bestsellerautor wurde, er mit seinen – auch fürs Fernsehen verfilmten – Theaterstücken über ethische Grenzfälle für viel Aufsehen gesorgt hat, er überhaupt inzwischen so eine Art Gewissen der Nation geworden ist?

Von einer Mitte kann nämlich in „Nachmittage“, wie dieser Band von Schirach betitelt ist, (Luchterhand, München 2022. 176 Seiten, 22 €) kaum die Rede sein, schon gar nicht geografisch, es sei denn man würde die gesamte Erde als Mitte des Universums bezeichnen.
Denn diese Nachmittage sind ganz und gar globaler Natur. Es geht von Taiwan über Japan nach New York, von Marokko nach Bayern und Berlin, weitere Schauplätze neben Oslo sind Paris, Zürich und Norditalien. Dabei ist Gutsituiertheit häufig Trumpf.

Die Orte, an denen Schirach Menschen trifft, sind häufig die exquisitesten: riesige Landhäuser, die Dachrestaurants von First-Class-Hotels etc. Man versteht, warum der Erzähler Sofia Coppolas Film „Lost in Translation“ als „einen der wunderbarsten Filme, die ich kenne“ bezeichnet.

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Als Leitmotiv der 26 Geschichten, von denen viele sehr kurz oder gar keine sind, darf man einen tatsächlichen roten Faden verstehen. Den zieht gleich zu Beginn – in der Erzählung einer taiwanesischen Journalistin – ein alter Mann aus seiner Tasche, um einem jungen Mann zu erläutern, dass jeder Mensch „von seiner Geburt an durch einen solchen Faden mit einem anderen Menschen verbunden“ ist, „ganz gleich, wie weit die beiden voneinander entfernt lebten.“

Damit kann das Driften durch die Welt beginnen, alles hängt ja miteinander zusammen. Dieses Driften ist kein sorgloses, sondern ein beschwertes, ein elegisch-trauriges. Nicht ganz zufällig ist dem Ganzen ein Zitat von Thomas Mann vorangestellt: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ Im Angesicht des Todes ist alles nichts – dagegen wehrt sich Ferdinand von Schirach, dagegen wehrt sich der Erzähler von „Nachmittage“.

Viele literarische Referenzen

Weshalb untergründig hier häufig und fast ohne dass sie irgendwo in den Geschichten fixiert sind, Erinnerungen an verflossen Lieben eingeflochten werden. Und weshalb Schirach womöglich sein Dasein als erfolgreicher Schriftsteller mit literarischen Referenzen und Verweisen von Thomas Mann über F. Scott Fitzgerald bis zu Giuseppe Tomasi di Lampedusa zu verbinden sucht.

Trotzdem weiß Ferdinand von Schirach, was er seinem großen Publikum schuldig ist. Es gibt zwischen den vielen aphoristischen, mitunter sottisenhaften, nachdrücklich zum Nachdenken animierenden Kurzkapiteln (zum Beispiel über ein Gespräch, das es nicht gegeben haben kann zwischen Jesus und Pilatus, über die Harvey-Weinstein-Problematik, über die Besetzungsliste von Viscontis Film „Der Leopard“) einige Geschichten, die auch in den frühen Schirach-Bänden „Verbrechen“ oder „Schuld“ stehen könnten.

Jene von dem Besitzer einer Uhrenmanufaktur, der ein unauffälliges Single-Leben in Süddeutschland führt, aber dann und wann ein ausschweifendes in der Berliner Schwulen-Subkultur, und schließlich von einem Berliner Clubbesitzer erpresst wird.

Die von dem herumstreunenden Waisenmädchen, das von einem Berliner Kinobesitzer vor dem Absturz bewahrt wird. Nach dessen Beerdigung erzählt sie Ferdinand von Schirach, dass ihr Retter nur bedingt ein guter Mensch war und sie sich an ihm wegen seiner Missetaten gerächt hat.

Ein Selbstporträt?

Oder die Geschichte von der Frau, die eines Tages entdeckt zu haben meint, dass ihr Mann der seit langem gesuchte Exhibitionist aus der Umgebung ist. Sie konfrontiert ihn damit und reicht die Scheidung ein.

Fast alle diese Geschichten spielen in Verhältnissen, die wenig gemeinsam haben mit denen des Erzählers. Hier regiert die Normalität, der Alltag, der Biedersinn, und doch gehorchen diese Stories dem Gebot der Originalität, der plötzlichen Volte. Formal sind sie alle gleich aufgebaut.

Ferdinand von Schirach trifft jemand, der oder die wiederum ihm eine Lebenserzählung liefert. Manchmal versucht sich Schirach an einem Scott-Fitzgerald-Short-Story-Sound, was ihm selten gelingt, manchmal ist es einfach schnell und unterhaltsam und okay.

Ob Ferdinand von Schirach aber seine Mitte gefunden hat? Die 23. Geschichte handelt von einer Pianistin, die eines Abends einfach so aussteigt aus ihrem umjubelten Musikerinnendasein. Sie hatte das Gefühl, ihr Leben und ihr Zeitlosigkeitsempfinden zu verlieren, auch das Drumherum passte ihr nicht mehr (natürlich treffen beide sich zum Gespräch im Pariser Café Flore, natürlich gibt es dabei auch interessante Einblicke in den verbotenen Verzehr von Ortolanen).

Es wirkt, als habe sich Schirach in dieser Geschichte selbst porträtiert. „Man ist angeblich der Ehrengast, aber in Wirklichkeit ist man der Hofnarr“, sagt der Ich-Erzähler einmal. Trotzdem mag man der Pianistin und damit dem Erzähler nicht glauben. Nach der Lektüre von „Nachmittage“ hat man sehr stark den Eindruck, Mitte hin oder her: Der globale Bestsellerautor, der Ferdinand von Schirach ist, gefällt sich doch sehr in seiner Rolle.

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