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Adja (Tracy Gotoas) hat andere Vorstellungen als ihre Freudinnen

© Foto: Arsenal Verleih

Film „Horizont“ im Kino: Fridays for Future in der Banlieue

Felder zu Shopping Malls: Regisseurin Emilie Carpentier erzählt in „Horizont“ von den Träumen Jugendlicher in den Vorstädten von Paris

Die 18-jährige Adja lebt mit ihrer Familie am äußersten Stadtrand von Paris, wo die Banlieues in die Felder übergehen. Wohnkomplexe erheben sich aus dem Nichts, Paris scheint unendlich weit entfernt. Alle in Adjas Umfeld suchen nach Wegen aus der Enge des Betons. Ihre beste Freundin Sabira (Niia Hall) versucht es als Influencerin S’habibi , ihr Bruder Tawfiq (Dembélé) als Profifußballer.

Doch Adja (Tracy Gotoas) findet keinen Zugang zu dieser Welt glänzender Oberflächen, stattdessen landet sie in einem Praktikum im Altersheim. „Genießen Sie es, solange Sie können“, rät ihr eine der Bewohnerinnen. Als die alte Frau stirbt, fragt sich Adja, was ihre Rolle angesichts des Sterbens im Altersheim sein könnte. Ihr Mitschüler Arthur (Sylvain Le Gall), der wie sie im Altersheim Praktikum macht, nimmt sie mit auf eine Klimademonstration.

Zwischen Sinnsuche und Politisierung

„Horizont“, das Langfilmdebüt der französischen Regisseurin Emilie Carpentier, zeigt eine Jugendliche zwischen Sinnsuche und der Politisierung der Generation Fridays for Future. Die Demonstration hat ein konkretes Feindbild. Auf den Feldern stadtauswärts soll ein Einkaufcenter entstehen: Dream City, Hoffnung der Banlieue auf Arbeitsplätze. Für die Mall sollen Felder weichen. Ein Teil des Landes gehört Arthurs Vater, der als einer der letzten Bauern hier Gemüse anbaut.

Für Adjas Freunde hingegen ist Dream City eine Verheißung, sie freuen sich auf Clubs und Luxusboutiquen. Als sie eine Freundin treffen, die eine Ziege über eine Wiese führt, sitzen Adja und Sabira lachend im Cabrio von Adjas Bruder. „Unsere Eltern verließen ihr Dorf für uns, und die bringen uns das Dorf zurück.“ Unterdessen kämpft Adjas Mutter in ihrer Heimat im Senegal darum, ihr Heimatdorf vor dem ansteigenden Meeresspiegel zu schützen. Die Klimaschützer:innen leben auf dem Land von Arthurs Vater, helfen beim Gemüseanbau und haben ihr Camp zu einer Zone à défendre (ZAD) ausgebaut, um sich der Räumung widersetzen zu können.

Migration, Milieu, Klimawandel. Anhand der Familiengeschichten flicht Capentier Konfliktlinien in die Interaktionen der Jugendlichen der Banlieue ein. Für Sabira und Tawfiq wird das Elend und der Alltagsrassismus durch die Verheißung des Blingbling erst erträglich. Für Adja ist es keine Antwort auf die Frage, wohin sie mit ihrem Leben will. So unterschiedlich ihre Welt von der Arthurs ist, so attraktiv ist nicht nur er – sondern auch das Lebensmodell im Camp der Klimaschützer und ihr Kampf für Veränderung.

„Horizont“ bleibt über weite Strecken konventionell in der Form, setzt auf naturalistisches Spiel und mittlere Einstellungsgrößen, in denen die Zweitverwertung im Fernsehen schon angelegt ist. Einige wenige Male finden Carpentier und Kamerafrau Elin Kirschfink jedoch überraschende Bilder. Nach einem Streit mit Arthur stapft Adja aus der ZAD hinaus auf die Felder – und statt ihr zu folgen, hebt sich die Kamera und kippt über Adja hinweg, sodass das Panorama der Felder mit der Banlieue am Horizont Kopf steht. In einer anderen Szene kippt das Bild seitlich, während sich Adja nach einem Streit mit Sabira auf eine Bank legt. In Bildern wie diesen klingt eine Subjektivität der Kamera an, die nicht darin besteht, Adjas Perspektive zu simulieren, sondern Adjas emotionale Welt ins Zentrum setzt.

Carpentier überzockt diese Momente genauso wenig, wie sie Adja isoliert. Die Verbundenheit mit Sabiras und Tawfiqs Welt bleibt erhalten. Sie verteidigt ihren Bruder gegen den Druck ihrer Mutter, der nach einer Verletzung zurück auf den Fußballplatz soll. In der Szene des Telefonats wandert Sabira zwischen den Geschwistern. Wie jeder gute Coming-of-Age-Film wirft „Horizont“ existenzielle Fragen wie Einsamkeit, die Warenförmigkeit menschlicher Beziehungen, die Suche nach dem guten Leben auf. Carpentier gibt diesen Fragen in ihren Figuren Raum und Komplexität, die Zeit zu Zögern, zu Zweifeln, sich zu ändern. „Horizont“ ist ein kluger Glücksmoment im Kino.

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